Verlegen erhob sich Nafai von der Decke. Vaters Zelt war so groß, daß er nicht den Kopf einziehen mußte, wenn er aufrecht stand. »Als du mir erzählt hast, was du gesehen hast, war ich zuerst blind. Aber wie ich sehe, bist du jetzt taub und kannst die Dinge, die ich gehört habe, daher nicht hören.«
»Hilf deinem Bruder in seinen Stuhl«, sagte Vater. »Und paß auf, wie du mit deinem Vater sprichst.«
In dieser Nacht versuchte Issib in ihrem Zelt, Nafai zu trösten. »Vater ist der Vater, Nafai. Es kann keine gute Nachricht für ihn sein, daß sein jüngster Sohn viel mehr Informationen von der Überseele erhält, als es bei ihm je der Fall gewesen ist.«
»Vielleicht bin ich besser auf sie eingestellt«, sagte Nafai. »Ich kann nichts dafür. Doch was für eine Rolle spielt es schon, zu wem die Überseele spricht? Sollte nicht sogar Gaballufix Vater glauben, obwohl Vater im Palwaschantu-Klan im Rang unter ihm steht?«
»Unter seinem Amt vielleicht«, sagte Issib, »aber nicht unter seinem Rang. Hätte Vater Klansführer werden wollen, hätte man ihn gewählt – er ist von Geburts wegen doch der Wetschik, oder? Deshalb hat Gaballufix ihn immer gehaßt -weil er weiß, würde Vater die Politik nicht verachten, hätte er Gaballufix von Anfang an Macht und Einfluß nehmen können.«
Aber Nafai wollte jetzt nicht über basilikanische Politik sprechen. Er verstummte und sprach schweigend wieder mit der Überseele. Du mußt Vater dazu bringen, mir zu glauben, sagte er. Du mußt Vater zeigen, was wirklich geschieht. Du kannst mir nicht eine Vision zeigen und dann nicht dabei helfen, Vater zu überzeugen.
»Ich glaube dir, Njef«, flüsterte Issib. »Und ich glaube an das, was die Überseele bewerkstelligen will. Vielleicht braucht die Überseele gar nicht mehr – hast du daran schon einmal gedacht? Vielleicht ist es gar nicht nötig, daß Vater dir in diesem Augenblick glaubt. Also nimm es einfach hin. Vertraue der Überseele.«
Nafai sah Issib an, doch in der Dunkelheit der Nacht konnte er nicht ausmachen, ob die Augen seines Bruders geschlossen waren oder nicht. Hatte wirklich Issib gesprochen, oder schlief Issib, und hatte Nafai die Worte der Überseele in Issibs Stimme gehört?
»Eines Tages, Njef, läuft es vielleicht darauf hinaus, was Elemak gesagt hat. Vielleicht mußt du eines Tages deinen Brüdern Befehle geben. Sogar Vater. Glaubst du, daß die Überseele dich dann allein lassen wird?«
Nein, es konnte nicht Issib sein. Er hörte die Überseele in Issibs Stimme, die Dinge sagte, die Issib niemals sagen konnte. Und nun, da er wußte, daß er seine Antwort bekommen hatte, konnte er wieder schlafen. Doch bevor er schlief, bildeten sich Fragen in seinem Verstand:
Was, wenn die Überseele mir mehr sagt als Vater, nicht, weil es zu einem Plan gehört, sondern einfach, weil ich der einzige bin, der sie hören und verstehen kann?
Was, wenn die Überseele darauf zählt, daß ich eine Möglichkeit finde, die anderen zu überzeugen, weil die Überseele nicht mehr die Macht hat, sie selbst zu überzeugen?
Was, wenn ich wirklich allein bin, abgesehen von diesem einen Bruder, der mir glaubt – dem Bruder, der verkrüppelt ist und daher nichts tun kann?
Glaube ist nicht nichts, sagte die Stimme, die in Nafais Geist flüsterte. Issibs Glaube an dich ist der einzige Grund, daß du noch nicht begonnen hast, selbst an dir zu zweifeln.
Sage es Vater, bat Nafai, als er einschlief. Sprich zu Vater, damit er an mich glaubt.
Die Überseele sprach in dieser Nacht zu Vater, aber nicht mit der Vision, auf die Nafai gehofft hatte.
»Ich habe gesehen, daß ihr vier nach Basilika zurückkehrt«, sagte Vater.
»Wird auch langsam Zeit«, sagte Mebbekew.
»Aber nur zu einem bestimmten Zweck«, sagte Vater. »Um den Index zu holen und ihn mir zu bringen.«
»Den Index?« fragte Elemak.
»Er wird von Anfang an vom Palwaschantu-Klan aufbewahrt. Ich glaube, nur aus diesem Grund hat der Klan all diese Jahre lang seine Identität bewahrt. Einst wurden wir Hüter des Index genannt, und mein Vater hat mir erzählt, daß die Wetschiks das Recht haben, ihn zu benutzen.«
»Wozu benutzen?« fragte Mebbekew.
»Das weiß ich nicht genau«, sagte Vater. »Ich habe ihn nur ein paar Mal gesehen. Mein Großvater übergab ihn dem Klans-Rat, als er auf Wanderschaft ging, und mein Vater unternahm nach Großvaters Tod nie einen ernsthaften Versuch, ihn zurückzubekommen. Nun befindet er sich in Gaballufix’ Haus. Doch der Name läßt darauf schließen, daß es sich um den Katalog einer Bibliothek handelt.«
»Wie nützlich«, sagte Elemak. »Und deshalb schickst du uns nach Basilika zurück? Um einen Gegenstand zu holen, dessen Zweck du nicht kennst.«
»Um ihn zu holen und zu mir zurückzubringen. Ganz gleich, was es kostet.«
»Meinst du das ernst?« sagte Elemak. »Ganz gleich, was es kostet?«
»Die Überseele will es so. Ich weiß es … obwohl ich … es ist nicht mein persönliches Gefühl. Ich will, daß ihr sicher hierher zurückkehrt.«
»Klar«, sagte Mebbekew. »So gut wie erledigt. Kein Problem.«
»Sollen wir weitere Vorräte mitbringen?« fragte Nafai.
»Es gibt keine weiteren Vorräte«, sagte Vater. »Ich habe Raschgallivak befohlen, alle Karawanenvorräte zu verkaufen.«
Nafai sah, daß Elemaks Gesicht unter der dunklen Bräune rot wurde. »Und womit, Vater, sollen wir unser Geschäft dann wieder aufbauen, wenn unser Exil vorüber ist?«
Nafai begriff, daß es sich um eine kritische Entscheidung handelte: Elemak sah sich mit der Tatsache konfrontiert, daß Vaters Entscheidungen unabänderlich waren. Würde Elja rebellieren, dann wegen dieser Angelegenheit, die er nur als Verschwendung seines Erbes betrachten konnte. Also sprach Vater ganz ruhig, als er ihm antwortete.
»Ich habe nicht vor, irgend etwas wieder aufzubauen«, sagte Väter. »Tu, was ich sage, Elemak, oder es wird für dich keine Rolle mehr spielen, wie es um das Wetschik-Vermögen steht.«
Damit war alles gesagt. Klarer konnte er sich nicht ausdrücken. Falls Elemak jemals selbst Wetschik sein wollte, tat er besser daran, den Befehlen des jetzigen Wetschik zu gehorchen.
»Ich konnte diese stinkenden Tiere sowieso nie leiden«, gackerte Mebbekew. »Wer braucht sie schon?« Der Sinn seiner Worte war genauso klar: Ich werde gern an deiner statt Wetschik, Elemak – also fahre bitte fort und mache Vater wirklich wütend.
»Ich werde dir den Index bringen, Vater«, sagte Elemak. »Aber warum willst du auch die anderen schicken? Laß mich allein gehen. Oder ich nehme Mebbekew mit, und die Knaben bleiben hier. Sie werden mir sowieso nicht helfen können.«
»Die Überseele hat mir gezeigt, daß alle vier gehen«, sagte Vater. »Also werdet ihr alle vier nach Basilika gehen, und alle vier werden zurückkommen. Hast du mich verstanden?«
»Vollkommen«, sagte Elemak.
»Gestern abend hast du Nafai verspottet, weil er behauptete, Visionen zu haben«, sagte Vater. »Aber ich sage dir, du könntest viel von Nafai und Issib lernen. Sie versuchen wenigstens zu helfen. Von meinen beiden älteren Söhnen höre ich nur Beschwerden.«
Mebbekew funkelte Nafai wütend an, doch Nafai hatte größere Angst vor Elemak, der Vater ganz ruhig ansah. Gestern abend wolltest du mir nicht glauben, Vater, dachte Nafai bei sich. Und heute sorgst du dafür, daß meine Brüder mich mehr denn je hassen.
»Ihr wißt viel, Elemak, Mebbekew«, sagte Vater, »doch bei allem, was ihr gelernt habt, scheint ihr niemals die Begriffe von Treue und Gehorsam verstanden zu haben. Lernt sie von euren jüngeren Brüdern, und dann werdet ihr des Wohlstands und der Ehren würdig sein, die ihr anstrebt.«