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Wäre er jetzt hier, würde ich ihn töten, dachte Elemak. Er hat mich mein Vermögen und meine Ehre und demzufolge meine gesamte Zukunft gekostet. Ihm fiel es nicht schwer, das Wetschik-Vermögen fortzugeben – es hätte ihm sowieso nie gehört. Es hätte mir gehört. Ich wurde dafür geboren. Ich wurde dafür ausgebildet. Ich hätte es verdoppelt und vervierfacht, immer und immer wieder, weil ich ein viel besserer Geschäftsmann bin, als Vater es je war oder sein könnte. Doch nun bin ich ein Exilant und Ausgestoßener, angeklagt des Diebstahls und bettelarm und ohne den Respekt des Mannes, der meine rechte Hand sein sollte, Raschgallivak.

Alles wegen Nafai. Alles ist seine Schuld.

Nafai lief in blinder Panik, ohne ein Ziel im Sinn. Erst, als er sich von der Menge gelöst hatte und auf einem freien Platz wiederfand, beruhigte er sich soweit, daß er darüber nachdenken konnte, wo er war und was er nun tun sollte. Er war im Alten Tanz, früher einmal eine so große Tanzfläche wie das Orchester in der Puppenstadt, das es vor vielen Jahrhunderten ersetzt hatte. Nun jedoch war die Fläche auf allen Seiten von Gebäuden umschlossen. Sie war nicht mehr kreisrund, und sogar der Halbkreis des Amphitheaters hatte sich zwischen den Häusern und Geschäften verloren. Doch eine freie Fläche war geblieben, und dort stand Nafai nun und betrachtete den Himmel, der im Westen rosa gepunktet und im Osten grau bis schwarz war. Es war fast völlig dunkel, und er hatte keine Ahnung, ob die Attentäter ihm noch folgten. Eins war jedoch sicher – in der Dunkelheit dieses Stadtteils konnte man viel leichter unbeobachtet einen Mord begehen. Seine ganze Flucht hatte ihn weiter denn je von einem sicheren Unterschlupf entfernt, und er hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte.

»Nafai«, sagte die Stimme eines Mädchens.

Er drehte sich um. Es war Luet.

»Hallo«, begrüßte er sie. Aber er hatte keine Zeit zum Plaudern. Er mußte nachdenken.

»Schnell«, sagte sie.

»Schnell was?«

»Komm mit.«

»Kann ich nicht«, sagte er. »Ich habe etwas vor.«

»Ja«, sagte sie. »Du mußt mitkommen.«

»Ich muß aus der Stadt heraus.«

Sie packte ihn am Hemd und richtete sich auf die Zehenspitzen auf, zweifellos, um ihm in die Augen sehen zu können, doch sie bewirkte nur damit, daß sie wie eine Puppe von ihm hinabhing. Er lachte, doch sie fiel nicht in sein Lachen mit ein. »Hör zu, o du der Geschäftigste aller Männer«, sagte sie, »hast du vergessen, daß ich eine Seherin der Überseele bin?«

Er hatte es vergessen. Er hatte sogar vergessen, daß sie Vater vor Gaballufix’ Hinterhalt gerettet hatte, indem sie mitten in der Nacht zu ihm gekommen war. Er begriff, daß sie einige Zusammenhänge noch nicht kannte. »Elemak und Mebbekew waren in die Verschwörung verwickelt«, sagte er. »Aber ich glaube, Gaballufix hat sie über seine Ziele und Absichten belogen.«

Sie hatte keine Geduld für sein zusammenhangloses Geschwätz. »Glaubst du, darauf kommt es jetzt noch an? Sie suchen nach dir, Nafai. Ich habe es in einem Traum gesehen – ein Soldat mit blutigen Händen läuft durch die Straßen. Ich wußte, daß ich dich finden muß. Um dich zu retten.«

»Wie kannst du mich retten?«

»Komm mit mir«, sagte sie. »Ich kenne den Weg.«

Er hatte keinen besseren Plan. Wenn er versuchte, sich irgendeine Alternative einfallen zu lassen, wurde sein Geist ganz leer. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Schließlich dämmerte ihm, daß es sich um eine Nachricht der Überseele handeln mußte. Sie wollte, daß er Luet begleitete. Sie hatte sie ihm geschickt, also mußte er ihr folgen, wohin auch immer sie ihn führte.

Sie nahm seine Hand, zog ihn vom Alten Tanz und über die Straße mit demselben Namen, bis sie die Stelle erreichten, wo sie schmaler wurde. Dort nahmen sie die Abzweigung nach links. »Wir haben unser Vermögen verloren«, sagte Nafai. »Das war auch meine Schuld. Abgesehen davon, daß Raschgallivak uns betrogen hat.«

»Halt die Klappe«, sagte sie. »Das ist keine gute Gegend.«

Sie hatte Recht. Es war dunkel, und die Straße führte zwischen alten, verfallenen und schmutzigen Häusern her. Es waren nur wenig Menschen unterwegs, und keiner schien bereit, ihnen ins Gesicht zu sehen.

Die Straße vollzog ein paar scharfe Biegungen, und dann fanden sie sich plötzlich auf der Frühlingsstraße wieder, dort, wo sie in den heiligen Wald führte. In diesem Moment sah Nafai vor ihm einen Trupp Soldaten, die Wache hielten, als wüßten sie, daß er dort auftauchen würde. Augenblicklich wirbelte er herum und sah dann auf der Straße, die sie gerade entlanggekommen waren, ein paar Männer, deren elektrische Klingen in der Dunkelheit leicht leuchteten.

»Gut gemacht, Njef«, sagte Luet verächtlich. »Sie hätten uns wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Aber jetzt haben wir uns verdächtig gemacht.«

»Die wissen genau, wer wir sind«, sagte er und deutete auf die Männer, die auf der dunklen Straße näher kamen.

»Na schön«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, den leichten Weg nehmen zu können, aber jetzt muß der andere hinhalten.«

Sie ergriff seine Hand und zerrte ihn halb über die Frühlingsstraße, aber von der Stadt fort und hin zum heiligen Wald. Nafai wußte, daß dies das Dümmste war, was sie überhaupt tun konnte. In den Ausläufern des Waldes würde es überhaupt keine Zeugen geben. Die Attentäter konnten frei schalten und walten. Falls sie davon ausgehen sollte, daß Nafai ein besonderes Kampfgeschick hatte und die Meuchelmörder irgendwie entwaffnen oder töten konnte, würde sie schnell die traurige Wahrheit erfahren, daß er sich nie besonders für das Kämpfen interessiert und auch keine besondere Unterweisung darin erhalten hatte. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, jemandem bei einem Wutanfall geschlagen zu haben, nicht einmal seine älteren Brüder, da es schlußendlich die Angelegenheit nur verschlimmerte, sich auf eine Prügelei mit Meb oder Elemak einzulassen. Nafai mochte groß für sein Alter sein, der größte der Söhne des Wetschik, doch das half ihm bei einer Schlägerei auch nicht weiter.

Als sie in die Dunkelheit am Ende der Frühlingsstraße eindrangen, wurden die Attentäter kühner.

»Genau«, rief einer von ihnen – leise, aber so laut, daß Nafai und Luet ihn hören konnten. »In die Schatten. Dort werden wir uns unterhalten.«

»Wir haben nichts, was ihr stehlen könntet.« Luets Stimme klang, als wäre sie in Panik geraten, als würde sie zittern – doch aufgrund des ruhigen Griffes ihrer Hand wußte Nafai, daß sie keineswegs zitterte.

»In die Schatten«, wiederholte der Mann.

Also gehorchten sie ihm. Drangen in die Dunkelheit unter den Bäumen ein. Doch zu Nafais Überraschung blieben sie nicht stehen, wandten sich auch nicht in südliche Richtung, um den Wald zu umgehen und auf der nächsten Straße wieder in die Stadt zurückzukehren. Luet führte ihn genau in östliche Richtung. Tiefer in das verbotene Land hinein.

»Dorthin kann ich nicht gehen«, sagte er.

»Sei leise«, sagte sie. »Sie auch nicht, außer, wenn sie uns hören und dem Geräusch folgen.«

Er hielt seine Zunge im Zaum und folgte ihr. Nach einer Weile fiel der Boden ab, war jetzt kein sanft geneigter Hang mehr, sondern eine steile Klippe. Es war nicht einfach, Halt zu finden. Der Himmel war jetzt völlig dunkel, und obwohl schon viele Blätter abgefallen waren, warfen die Bäume noch tiefe Schatten. »Ich kann nichts sehen«, flüsterte er.