»Ich auch nicht«, erwiderte sie.
»Warte«, sagte er. »Lausche. Vielleicht folgen sie uns nicht mehr.«
»Sie sind stehen geblieben«, sagte sie. »Aber wir können nicht anhalten.«
»Warum nicht?«
»Ich muß dich aus der Stadt bringen.«
»Wenn man mich hier erwischt, wird man mich schrecklich bestrafen.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Genau wie mich, weil ich dich hergebracht habe.«
»Dann bringe mich zurück.«
»Nein«, sagte sie. »Die Überseele will, daß wir diesen Weg nehmen.«
Doch es war ihnen unmöglich, sich weiterhin an den Händen zu halten – sie brauchten beide Hände, um die zerklüftete Klippe hinabsteigen zu können. Am Tag wäre der Abstieg nicht so gefährlich gewesen, doch in der Dunkelheit konnte jeder Fehltritt tödliche Folgen haben, und so mußten sie sehr vorsichtig sein. Wenigstens wuchsen die Bäume hier spärlicher, so daß sie im Sternenlicht etwas mehr ausmachen konnten. Zumindest, bis sie schließlich den Nebel erreichten.
»Jetzt müssen wir umkehren«, sagte er.
»Steige weiter hinab.«
»Im Nebel? Wir werden uns verirren, abstürzen und sterben.«
»Es ist ein gutes Zeichen«, sagte Luet. »Das bedeutet, daß wir mindestens auf halber Höhe zum See sind.«
»Du willst mich doch nicht zum See bringen!«
»Leise.«
»Warum stürze ich mich dann nicht einfach hinab und spare ihnen die Mühe, mich umzubringen?«
»Sei still, du dummer Mann. Die Überseele wird uns schützen.«
»Die Überseele ist ein Computer mit Satelliten, die Harmonie umkreisen. Sie verfügt über keine magischen Maschinen, die uns auffangen könnten, wenn wir stürzen.«
»Sie weist uns den Weg«, sagte Luet. »Zumindest hilft sie mir, ihn zu finden. Wenn du nur den Mund halten würdest, damit ich sie verstehe.«
Sie kletterten stundenlang durch den Nebel hinab – zumindest hatte Nafai diesen Eindruck –, erreichten schließlich jedoch den Grund des Tals. Gras auf einer Ebene, das dann Schlamm wich.
Warmem Schlamm. Nein, heißem Schlamm.
»Da wären wir«, sagte sie. »Wir können hier nicht ins Wasser – es steigt aus einer tiefen Spalte in der Erdhülle hinauf und ist so heiß, daß es kocht und Dampf abgibt. Wenn wir länger im Wasser blieben, selbst an der Küste, würde es uns das Fleisch von den Knochen kochen.«
»Wie könnt ihr Frauen dann überhaupt …«
»Wir beten am anderen Ende, wo der See von eiskalten Gebirgsbächen gespeist wird. Einige gehen in das kälteste Wasser. Aber bei den meisten stellen sich die Visionen ein, wenn sie dort schwimmen, wo sich das kalte und das heiße Wasser trifft. Eine turbulente Stelle, das Wasser schaukelt und wirbelt unablässig, verbrennt uns und läßt uns wieder frieren. Die Stelle, wo das Herz der Welt und ihre kälteste Oberfläche aufeinander stoßen. Die Stelle, wo die beiden Herzen einer jeden Frau zusammenwachsen.«
»Ich gehöre nicht hierher«, sagte Nafai.
»Ich weiß«, sagte Luet. »Aber die Überseele hat uns hierher geführt, also werden wir hier bleiben.«
Und dann geschah, was Nafai am meisten befürchtet hatte. Eine Frauenstimme, in nächster Nähe. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich eine Männerstimme gehört habe. Sie kam von dort.«
Laternen kamen näher, und viele Frauen. Ihre Füße erzeugten mit jedem Schritt sonderbare Geräusche im heißen Schlamm. Wie tief bin ich in den Schlamm eingesunken? fragte sich Nafai. Werden sie Schwierigkeiten haben, mich hinauszuziehen? Oder werden sie mich hier einfach lebendig begraben und den Schlamm entscheiden lassen, ob er mich kochen oder ersticken wird?
»Ich habe ihn hergebracht«, sagte Luet.
»Es ist Luet«, sagte eine alte Frau. Der Name wurde flüsternd durch die immer größer werdende Schar der Frauen weitergetragen.
»Die Überseele hat mich hierher geführt. Dieser Mann ist nicht wie andere Männer. Die Überseele hat ihn ausgewählt.«
»Gesetz ist Gesetz«, sagte die alte Frau. »Du mußt die Verantwortung selbst tragen, aber damit geht die Bestrafung nur von ihm auf dich über.«
Nafai sah, wie verkrampft Luet wirkte. Er begriff: Sie versteht die Überseele nicht besser als ich. Nach allem, was sie weiß, ist es der Überseele gleichgültig, ob sie lebt oder stirbt, ist sie vielleicht völlig zufrieden damit, meine sichere Flucht aus der Stadt mit Luetsieben erkauft zu haben.
»Nun gut«, sagte Luet. »Aber ihr müßt ihn zum Privattor bringen und ihn durch den Wald führen.«
»Du kannst uns nicht sagen, was wir tun müssen, Gesetzesbrecherin!« rief eine Frau. Aber andere brachten sie zum Schweigen. Nafai begriff, daß man Luet große Ehrfurcht entgegenbrachte, obwohl sie ein ungeheuerliches Verbrechen begangen hatte.
Dann rückte die Menge etwas auseinander, um eine Frau durchzulassen, die wie ein Geist aus dem Nebel auftauchte. Sie war nackt, und da sie sauber war, begriff Nafai einen Augenblick lang nicht, daß sie eine Wilde sein mußte. Erst, als sie dicht vor ihnen stand und an Luets Ärmel zerrte, erkannte Nafai, wie verwettert und trocken ihre Haut war, wie faltig und hager ihr Gesicht.
»Du«, flüsterte Luet.
»Du«, flüsterte die Wilde.
Dann wandte sich die heilige Frau aus der Wüste an die alte Frau, bei der es sich um die Anführerin dieser Richterinnen zu handeln schien. »Ich habe sie bereits bestraft«, sagte sie.
»Was meinst du damit?« sagte die alte Frau.
»Ich bin die Überseele, und ich sage, sie hat meine Strafe bereits erhalten.«
Die alte Frau sah Luet unsicher an. »Stimmt das, Luet?«
Nafai war erstaunt. War ihr Vertrauen in Luet so ungebrochen, daß sie sie aufforderten, eine Aussage zu bestätigen oder zu verneinen, die ihr das Leben kosten oder sie retten konnte, je nachdem, wie ihre Antwort ausfallen würde?
Ihr Vertrauen war gerechtfertigt, denn Luets Antwort brachte ihr keine besonderen Vorteile ein. »Diese heilige Frau hat mir nur eine Ohrfeige gegeben. Wie könnte das eine ausreichende Bestrafung für diesen Verstoß sein?«
»Ich habe sie hierher gebracht«, sagte die Wilde. »Ich ließ sie diesen Jungen herbringen. Ich habe ihm große Visionen gegeben, und ich werde ihm noch mehr geben. Ich werde Ehre in seinen Samen legen, und eine große Nation wird entstehen. Niemand möge ihn auf seinem Weg durch das Wasser und den Wald behindern, und was sie betrifft, so hat sie den Abdruck meiner Hand auf dem Gesicht gehabt. Wer kann sie berühren, nachdem ich sie geschlagen habe?«
»Das ist wahrhaftig die Stimme der Mutter«, sagte die alte Frau.
»Die Mutter«, flüsterten einige.
»Die Überseele«, flüsterten andere.
Die heilige Frau drehte sich wieder zu Luet um, hob die Hand und berührte die Lippen des Mädchens mit einem Finger. Luet küßte diesen Finger sanft, und einen Augenblick lang sehnte sich Nafai nach der Süße dieser Berührung. Dann veränderte sich der Gesichtsausdruck der Wilden. Eine hellere, strahlendere Seele schien in ihrem Gesicht gewesen zu sein und sie nun verlassen zu haben; sie schaute benommen und etwas verwirrt drein. Sie sah sich um, erkannte nichts und wanderte dann in den Nebel davon.
»War das deine Mutter?« flüsterte Nafai.
»Nein«, sagte Luet. »Die Mutter meines Körpers ist nicht mehr heilig. Doch in meinem Herzen sind alle diese Frauen meine Mutter.«
»Gut gesprochen«, sagte die alte Frau. »Wie wohlberedt dieses Kind doch ist.«
Luet neigte den Kopf. Als sie das Gesicht wieder hob, sah Nafai Tränen auf ihren Wangen. Er hatte keine Ahnung, was hier geschah, oder was es für Luet bedeutete; er wußte nur, daß sein und ihr Leben eine Zeitlang in Gefahr gewesen war und daß diese Gefahr nun vorüber war. Das reichte ihm.