Die Wilde hatte gesagt, niemand solle ihn auf seinem Weg durch das Wasser und den Wald behindern. Nach einer kurzen Diskussion kamen die Frauen zum Schluß, dies müsse bedeuten, daß er den See von dieser Stelle zum anderen Ufer überqueren sollte, vom heißen Ende zum kalten. Nafai hatte keine Ahnung, wieso sie dies den wenigen Worten der heiligen Frau entnehmen konnten, doch andererseits hatte er sich auch oft darüber gewundert, welchen Sinn die Priester den heiligen Schriften der Männerreligion entnehmen konnten. Sie warteten ein paar Minuten ab, bis mehrere Frauen sie vom Ufer aus riefen. Erst dann führte Luet ihn so nahe heran, daß er den See sehen konnte. Nun war klar, woher der Nebel kam – er hob sich als Dampfschichten aus dem Wasser; diesen Eindruck hatte er zumindest. Zwei Frauen in einem langen, niedrigen Boot brachten ihn zum Ufer; die eine ruderte, die andere saß an der Ruderpinne. Der Bug des Bootes war eckig und tief, doch da auf dem See kein Wellengang herrschte und sie gleichmäßig ruderten, schien keine Gefahr zu bestehen, daß das Boot dort Wasser aufnahm. Sie näherten sich dem Ufer, bis sie schließlich auf Grund liefen. Noch immer befanden sich mehrere Meter Wasser zwischen dem Boot und der Schlammfläche, auf der Nafai und Luet standen. Der Schlamm war mittlerweile schmerzhaft heiß, so daß Nafai oft von einem Fuß auf den anderen wechseln mußte, um sich nicht zu verbrennen. Wie würde es sein, durch das Wasser zu gehen?
»Gehe gleichmäßig«, sagte Luet. »Je weniger du spritzt, desto besser. Du darfst also nicht laufen. Du wirst sehen, wenn du einfach gleichmäßig weitergehst, wirst du bald im Boot sein, und der Schmerz wird schnell vergehen.«
Also hatte sie dies schon einmal gemacht. Nun gut, wenn Luet es ertragen konnte, konnte auch er es ertragen. Er machte einen Schritt auf das Wasser zu. Die Frauen stöhnten auf.
»Nein«, sagte sie schnell. »An diesem Ort bist du ein Kind und ein Fremder, und du mußt geführt werden.«
Ich, ein Kind? Im Vergleich zu dir? Aber dann begriff er, daß sie natürlich Recht hatte. Wie alt sie auch sein mochten, dies war ihr Ort, nicht der seine; hier war sie die Erwachsene und er das Kind.
Sie legte die Geschwindigkeit vor, zügig, aber nicht übereilt. Das Wasser verbrannte seine Füße, doch es war flach, und er spritzte kaum, wenngleich seine Bewegungen auch nicht so grazil und glatt wie die Luets waren. Nach einem Augenblick hatten sie das Boot erreicht, doch es kam Nafai wie eine Ewigkeit vor, wie tausend quälende Schritte, besonders als sie ins Boot stieg. Schließlich hatte sie es geschafft, und ihre Hand half ihm hinein, und er ging auf Füßen, die unter der Haut so heftig schmerzten, daß er Angst hatte, sie zu betrachten, weil er befürchtete, daß Fleisch wäre von den Knochen abgefallen. Doch dann schaute er hin, und die Haut sah ganz normal aus. Luet wischte ihm mit dem Saum ihres Rocks die Füße ab. Die Frau am Ruder stieß ein Ruderblatt in den Schlamm unter dem Wasser und drückte sie zurück; die Muskeln ihrer stämmigen Arme spannten sich dabei vor Anstrengung. Nafai sah Luet an und hielt ihre Hände fest, als sie durchs Wasser glitten.
Es war die seltsamste Reise in Nafais Leben. Der Nebel ließ alles magisch und unwirklich erscheinen. Große Felsen bäumten sich aus dem Wasser auf und wurden dann wieder verschluckt, als hätten sie einfach zu existieren aufgehört. Das Wasser wurde heißer und kochte an manchen Stellen sogar; diesen Stellen wichen sie aus. Das Boot wurde nicht warm, doch die Luft um sie herum war so heiß und feucht, daß sie schon bald völlig durchnäßt waren und die Kleidung ihnen auf den Körpern klebte. Nafai sah zum ersten Mal, daß Luet in der Tat frauliche Rundungen hatte; keine ausgeprägten, aber immerhin doch soviel, daß er sie nie wieder nur für ein Kind halten würde. Plötzlich schreckte er davor zurück, hier zu sitzen und ihre Hände zu halten, doch er hatte noch mehr Angst davor, sie loszulassen. Er mußte sie berühren, wie ein Kind in der Dunkelheit die Hand seiner Mutter hält.
Sie kamen schnell voran. Die Luft wurde kühler. Sie fuhren durch Untiefen mit steilen Klippen auf beiden Seiten, die, je höher sie emporstiegen, um so näher aneinanderzurücken schienen, bis sie sich schließlich im Nebel verloren. Nafai fragte sich, ob sie sich vielleicht in einer Höhle befanden oder das Sonnenlicht den Grund dieses tiefen Tals jemals erreichte. Dann wichen die Klippenwände wieder zurück, und der Nebel wurde etwas dünner. Gleichzeitig wurde das Wasser unruhiger. Nun gab es Wellen, und Strömungen erfaßten das Boot und schienen es drehen, von einer Seite zur anderen schaukeln zu wollen.
Die eine Frau hob die Ruder, die andere nahm die Hand von der Ruderpinne. Luet beugte sich vor. »Das ist der Ort, wo die Visionen kommen«, flüsterte sie. »Ich habe es dir gesagt – wo sich die Hitze und die Kälte treffen. Hier gleiten wir nackt durch das Wasser.«
Da es ihm unangenehmer war, Luet beim Ausziehen zu beobachten, als sich selbst auszuziehen, starrte er auf seine Hände, die seine Kleidung lösten und zusammenfalteten, wie Luet die ihre zusammengefaltet und ordentlich ins Boot gelegt hatte. Als er versuchte, sie irgendwie zu beobachten, ohne sie dabei zu sehen, begriff er nicht, wie es ihr gelang, so geräuschlos ins Wasser zu gleiten und dann bewegungslos auf dem Rücken zu treiben. Er sah, daß sie keinerlei Schwimmbewegungen machte, und als er sich – viel lauter – ebenfalls ins Wasser fallen ließ, blieb er einfach bewegungslos liegen. Das Wasser verfügte über einen erstaunlichen Auftrieb. Es bestand keine Gefahr unterzugehen. Die Stille war tief und mächtig; nur einmal sprach er, als er sah, daß sie von ihm abgetrieben wurde.
»Das macht nichts«, antwortete sie leise. »Sei still.«
Er war still. Nun war er allein im Nebel. Die Strömungen drehten ihn – oder vielleicht auch nicht, denn im Nebel verlor er jede Orientierung. Es war friedlich hier, ein Ort, an dem seine Augen sehen und doch nicht sehen, seine Ohren hören und doch nicht hören konnten. Die Strömung ließ ihn jedoch nicht schlafen. Er fühlte die heißen und kalten Strömungen unter seinem Körper, manchmal sehr heiß, manchmal sehr kalt, so daß er manchmal dachte: Ich halte das keinen Augenblick länger aus, ich muß schwimmen, oder ich werde sterben – und dann änderte sich die Strömung wieder.
Er sah keine Vision. Die Überseele sagte nichts zu ihm. Er lauschte. Er sprach sogar zu der Überseele, bat sie, ihn wissen zu lassen, wie er irgendwie in den Besitz des Index gelangen könnte, den zu holen Vater ihn geschickt hatte. Falls die Überseele ihn hörte, gab sie ihm kein Zeichen.
Er trieb ewig auf dem See. Oder vielleicht waren es nur ein paar Minuten, bevor er die leise Bewegung der Ruder im Wasser hörte. Eine Hand berührte sein Haar, sein Gesicht, seine Schulter, hielt dann seinen Arm fest. Er kam auf den Gedanken, den Kopf zu drehen, tat es dann auch und sah das Boot mit einer nun wieder bekleideten Luet, die nach ihm griff. Er hatte jede Schüchternheit vergessen, war nur froh, sie zu sehen, und gleichzeitig traurig darüber, das Wasser verlassen zu müssen. Als er ins Boot klettern wollte, stellte er sich nicht besonders geschickt an. Er brachte es arg ins Schwanken, und Wasser spritzte hinein.
»Roll dich hinüber«, flüsterte Luet.
Er legte sich im Wasser auf die Seite, hob ein Bein und einen Arm übers Schanzkleid und rollte sich hinüber. Es ging ganz leicht und fast geräuschlos vonstatten. Luet gab ihm seine Kleidung, die noch immer naß, mittlerweile aber sehr kalt war. Er zog sie an und erschauderte, als die Frauen das Boot in den furchtbar kalten Nebel ruderten. Luet erschauderte ebenfalls, schien sich aber nicht an der Kälte zu stören.
Endlich machten sie ein Ufer vor ihnen aus, an dem ebenfalls eine Gruppe Frauen wartete. Vielleicht hatten sie ein anderes Boot über den See genommen, ohne das Ritual zu vollziehen, nackt durch das Wasser zu schwimmen, oder vielleicht gab es eine Straße für Läuferinnen mit Nachrichten; die Frauen jedenfalls, die dort auf sie warteten, wußten, um wen es sich handelte. Erklärungen waren überflüssig. Luet ging erneut voraus, diesmal durch so kaltes Wasser, daß es in Nafais Knochen schmerzte. Sie erreichten festes Land und Frauenhände schlangen eine trockene Decke um ihn. Er sah, daß auch Luet gewärmt wurde.