»Der erste Mann, der das Wasser durchquert hat«, sagte eine Frau.
»Der Mann, der das Wasser der Frauen durchquert hat«, sagte eine andere.
Luet erklärte es ihm, wenngleich es ihr etwas peinlich zu sein schein. »Berühmte Prophezeiungen«, sagte sie. »Es gibt so viele davon, daß es nicht schwer ist, dann und wann eine davon zu erfüllen.«
Er lächelte. Er wußte, daß sie die Prophezeiungen viel ernster nahm, als sie nun zugab.
Ihm fiel auf, daß niemand sie fragte, was auf dem Wasser geschehen war; niemand fragte, ob sie eine Vision gehabt habe. Doch sie warteten gespannt, bis sie sagte: »Die Überseele spendete mir Trost, und das genügte.« Daraufhin zogen sich die meisten von ihnen zurück, doch einige wenige blieben und sahen Nafai an, bis er den Kopf schüttelte.
»Den leichten Teil haben wir überstanden«, sagte sie.
Er hielt es für einen Scherz, doch dann führte sie ihn durch das Private Tor, eine legendäre Öffnung in der roten Mauer, von der er bislang eigentlich gar nicht so recht geglaubt hatte, daß es sie gab. Es war ein geschwungener Durchgang zwischen zwei massiven Türmen, und statt Stadtwächtern befanden sich nur Frauen dort, die sie beobachteten. Er wußte, daß sich auf der anderen Seite der Pfadlose Wald befand. Schnell erfuhr er, daß er seinen Namen zu Recht trug. Als sie die Waldstraße erreichten, waren ihre Gesichter und auch ihre Arme und Beine mit Striemen überzogen.
»In dieser Richtung liegt das Hintere Tor«, sagte Luet. »Und durch eine beliebige dieser Schluchten erreichst du die Wüste. Wohin du von dort aus gehen wirst, weiß ich nicht.«
»Das reicht mir«, sagte Nafai. »Ich finde den Weg schon.«
»Ich habe getan, was die Überseele mir aufgetragen hat.«
Nafai wußte nicht, was er sagen sollte. Er kannte nicht einmal den Namen des Gefühls, das sich bei ihm eingestellt hatte. »Ich glaube, ich kenne dich nicht«, sagte er schließlich.
Sie sah ihn leicht verwirrt an.
»Nein, das stimmt nicht«, sagte Nafai. »Ich glaube, ich habe dich zuvor nicht gekannt, obwohl ich glaubte, dich zu kennen. Und nun, da ich dich endlich kenne, kenne ich dich eigentlich überhaupt nicht.«
Sie lächelte. »Das bewirken diese Strömungen jedesmal«, sagte sie. »Erzähle niemandem, ob nun Mann oder Frau, was du diese Nacht getan hast.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich selbst glaube, daß es mir wirklich zugestoßen ist.«
»Werden wir dich in Tante Rasas Haus wiedersehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Nafai. »Ich weiß nur eins: daß ich nicht weiß, wie ich den Index beschaffen kann, ohne dabei getötet zu werden, und daß ich ihn trotzdem beschaffen muß.«
»Warte, bis die Überseele dir sagt, was du tun sollst«, sagte Luet, »und tue es dann.«
Er nickte. »Einverstanden, falls die Überseele mir wirklich etwas sagt.«
»Das wird sie«, sagte Luet. »Wenn etwas zu tun ist, wird sie es dir sagen.«
Dann streckte Luet die Hand aus, ergriff die seine und hielt sie kurz fest. Er erinnerte sich wieder daran, wie es sich angefühlt hatte, sich im See an sie zu klammern. Doch ihm war etwas peinlich zumute, und er zog die Hand zurück. Sie hatte ihn schwach gesehen. Sie hatte ihn nackt gesehen.
»Siehst du?« sagte sie. »Du vergißt bereits, wie es wirklich war.«
»Nein, das stimmt nicht«, sagte er.
Sie wandte sich ab und eilte die Straße zum Hinteren Tor entlang. Er wollte sie rufen und ihr sagen: Du hattest Recht, ich habe tatsächlich vergessen, wie es wirklich war, ich habe mich daran erinnert, als wäre ich noch der Junge, der ich vorher war, doch nun erinnere ich mich daran, daß ich nicht schwach oder nackt war, daß es nichts gibt, dessen ich mich schämen müßte. Es war, als wäre ich wie ein großer Held aus den Prophezeiungen über den magischen See geschritten, während du meine Führerin und Lehrerin warst, und als wir unsere Kleidung ablegten, war es nicht, als wären ein Mann und eine Frau nackt zusammen gewesen, sondern eher zwei Götter aus uralten Geschichten aus fernen Ländern, die ihre sterblichen Verkleidungen abgelegt und ihre glorreiche Unsterblichkeit enthüllt hatten, bereit, über den See des Todes zu schweben und unbeschadet die andere Seite zu erreichen.
Doch als ihm alles eingefallen war, was er sagen wollte, war sie schon um eine Biegung verschwunden.
14
Issibs Stuhl
Als er den Treffpunkt erreichte, wußte er nicht, was ihn dort erwartete. Auf dem Weg im Sternenlicht durch die Wüste waren ihm alle möglichen Gedanken durch den Kopf gegangen. Was sollte geschehen, wenn keinem seiner Brüder die Flucht gelungen war? Sie hatten ja nicht die Hilfe Luets und der Frauen Basilikas gehabt. Oder wenn sie doch entkommen waren, aber die Soldaten waren einem von ihnen zu ihrem Versteck gefolgt und hatten sie dann dort erschlagen? Würde er ihre verstümmelten Leichen finden, wenn er dort ankam? Oder würden Soldaten im Hinterhalt liegen und auf ihn warten, um ihn zu ergreifen, während er sich durch die Schlucht näherte? Er blieb am oberen Ende der Schlucht stehen, an der Stelle, an der sie heute morgen Lose gezogen hatten. Überseele, sagte er stumm, soll ich dort hinab gehen? Als Antwort stellte sich ein Bild in seinem Geist ein – einer von Gaballufix’ unmenschlichen Soldaten schritt durch die leeren, nächtlichen Straßen Basilikas. Er wußte nicht, welchen Sinn er dieser Vision entnehmen sollte. Wollte die Überseele ihm damit sagen, daß sich alle Soldaten in der Stadt befanden? Oder sah Nafai diese Vision, weil die Überseele ihn warnen wollten, daß ihm Soldaten in dem ausgetrockneten Flußbett auflauerten, und sein Gehirn hatte der Vision einfach irrelevante Details der Stadt hinzugefügt?
Nur eines war klar – die Nachricht der Überseele enthielt ein Gefühl der Dringlichkeit. Als gäbe es eine Gelegenheit, die er nicht verstreichen lassen durfte. Oder eine Gefahr, der er ausweichen mußte.
Was kann ich von meiner eigenen Urteilsfähigkeit erwarten, dachte Nafai, wenn die Botschaft so unklar ist? Wenn meine Brüder in Schwierigkeiten stecken, muß ich es wissen. Ich kann sie nicht im Stich lassen, auch wenn ich mich selbst damit in Gefahr bringe. Nimm diesen Gedanken von mir, wenn ich mich irre.
Dann ging er das Flußtal entlang. Es kam keine Erstarrung, keine Ablenkung. Was immer die Überseele ihm sagen wollte, sie hatte bestimmt nichts dagegen, daß er sich mit seinen Brüdern traf.
Oder sie hatte ihn aufgegeben. Aber nein – sie hatte so viel Mühe auf sich genommen, ihn aus der Stadt und über den See der Frauen zu bringen, daß sie ihn jetzt wohl kaum fallenlassen würde.
Es war so dunkel in der Schlucht, daß er schließlich stolperte und den Hang hinabrutschte, bis er den einigermaßen ebenen Grund erreicht hatte, wo seine Brüder auf ihn warten sollten.
»Nafai.«
Es war Issibs Stimme. Doch bevor Nafai antworten konnte, spürte er einen heftigen Schlag und dann eine Sandale auf seinem Gesicht, die ihn zu Boden stieß.
»Narr!« schrie Elemak. »Hätten sie dich doch nur erwischt und umgebracht, du Idiot!«
Noch ein Tritt, diesmal gegen seine Nase. Und dann Mebbekews Stimme. »Alles verloren, das ganze Vermögen, alles, wegen dir!«
»Er hat es nicht genommen, ihr Narren!« rief Issib. »Gaballufix hat es gestohlen!«
»Du hältst den Mund!« brüllte Mebbekew und näherte sich Issib drohend. Nun konnte Nafai endlich sehen, was hier vor sich ging. Obwohl sein Gesicht von den winzigen Steinchen schmerzte, die sich in den Sohlen ihrer Sandalen festgesetzt hatten, hatten sie ihn nicht ernsthaft verletzt. Doch er sah, daß sie vor Zorn fast außer sich waren. Doch warum richtete er sich gegen Nafai?