Nafai fiel auf, daß Elemak nichts gesagt hatte. Er musterte den Stuhl ruhig, während er den Stab noch immer festhielt. Dann stürmte Elemak vor und schlug mit der Stange auf den Stuhl ein.
Ein Blitz zuckte auf; zumindest hatte es diesen Anschein. Elemak schrie auf, prallte zurück, und der Stab flog durch die Luft. Er brannte auf ganzer Länge.
Vorsichtig, langsam, schob Mebbekew seine Stange wieder in das Packgestell zurück.
»Warum hast du deinen jüngeren Bruder mit einem Stab geschlagen, Elemak?« sagte der Stuhl. »Warum hast du seinen Tod geplant, Mebbekew?«
»Wer spricht da?« sagte Mebbekew.
»Kannst du dir das nicht denken, du Narr?« Issib sprach schwach vom Boden aus. »Wer hat uns denn auf diese Mission geschickt?«
»Vater«, sagte Mebbekew.
»Die Überseele«, sagte Elemak.
»Versteht ihr denn nicht, daß ich euern jüngeren Bruder Nafai auserwählt habe, euch zu führen, weil er bereit war, meine Stimme zu hören?«
Das brachte beide zum Schweigen. Doch Nafai wußte, daß sich in ihren Herzen ihr Haß auf ihn von heißem Zorn in einen kalten Groll verwandelt hatte, der niemals sterben würde. Die Überseele hatte Nafai ausgewählt, sie zu führen. Nafai, der noch nicht einmal die Verhandlungen mit Gaballufix überstehen konnte, ohne alles zu verpatzen. Überseele, warum tust du mir das an?
»Wenn ihr euern Vater nicht verraten hättet, wenn ihr an mich geglaubt und ihm gehorcht hättet, hätte ich nicht Nafai statt euch erwählen müssen«, sagte der Stuhl – sagte die Überseele. »Nun geht wieder nach Basilika, und ich werde euch Gaballufix ausliefern.« Damit erloschen die Lampen des Stuhls, und er sank langsam zu Boden.
Sie alle warteten benommen einen Augenblick lang ab. Dann ging Elemak zu Issib, hob ihn sanft und vorsichtig hoch und setzte ihn wieder in den Stuhl. »Es tut mir leid, Issja«, sagte er leise. »Ich war nicht bei Sinnen. Ich würde dir niemals etwas antun.«
Issib sagte nichts.
»Wir waren auf Nafai wütend«, sagte Mebbekew.
Issib drehte sich zu ihm um und wiederholte flüsternd seine eigenen Worte. »Machen wir ihn endgültig fertig. Und wenn Issib nicht den Mund halten kann, erledigen wir beide.«
»Ich vermute, das wirst du mir jetzt mein Leben lang vorwerfen.«
»Halt die Klappe, Meb«, sagte Elemak. »Denken wir nach.«
»Gute Idee«, sagte Mebbekew. »Das Nachdenken hat uns bislang ja auch so weit gebracht.«
»Es ist eine Sache zu sehen, daß die Überseele einen Stuhl bewegt«, sagte Elemak. »Aber Gaballufix hat Hunderte von Soldaten. Er könnte jeden von uns fünfzig Mal töten lassen – wo sind die Soldaten der Überseele? Welches Heer wird uns jetzt schützen?«
Nafai hatte sich erhoben und ihnen zugehört. Er konnte kaum glauben, was sie sagten. »Die Überseele hat euch gerade einen Teil ihrer Macht gezeigt, und ihr fürchtet euch noch immer vor Gaballufix und seinen Soldaten? Die Überseele ist stärker als diese Soldaten. Wenn sie nicht will, daß die Soldaten uns töten, werden sie uns auch nicht töten.«
Elemak und Mebbekew betrachteten ihn schweigend.
»Ihr wolltet mich töten, weil euch meine Worte nicht gefielen«, sagte Nafai. »Seid ihr jetzt bereit, den Worten der Überseele zu gehorchen und mir zu folgen?«
»Woher sollen wir wissen, daß du den Stuhl nicht selbst manipuliert hast?« sagte Mebbekew.
»Ja, klar«, sagte Nafai. »Bevor wir heute überhaupt in die Stadt gingen, wußte ich, daß ihr mir für alles die Schuld geben und versuchen würdet, mich zu töten, und so haben Issja und ich den Stuhl manipuliert, damit er genau diese Rede hält.«
»Sei nicht dumm, Meb«, sagte Elemak. »Wir werden vielleicht sterben, aber da wir auch alles andere verloren haben, spielt das für mich wirklich keine große Rolle mehr.«
»Nur, weil du ein Fatalist bist, muß ich noch längst nicht sterben wollen«, sagte Mebbekew.
Issib schwang den Stuhl vor. »Gehen wir«, sagte er zu Nafai. »Ich folge der Überseele und dir als ihrem Diener. Gehen wir.«
Nafai nickte und ging dann die Schlucht entlang. Eine Weile hörte er nur das Geräusch seiner eigener Schritte und das leise Summen von Issibs Stuhl. Dann schließlich kam das Geklapper von Elemak und Mebbekew, die ihm das Flußtal entlang folgten.
15
Mord
Wenn wir überhaupt die geringste Hoffnung auf Erfolg haben wollen, dachte Nafai, müssen wir damit aufhören, uns selbst Pläne auszudenken. Gaballufix überlistet uns jedesmal.
Und nun bestand noch weniger Hoffnung, da sich Elemak und Mebbekew absichtlich unkooperativ zeigten. Warum hatte die Überseele auch unbedingt sagen müssen, daß Nafai sie anführen sollte? Wie konnte er nur den Befehl über seine beiden älteren Brüder übernehmen, die ihn viel lieber scheitern sehen würden, als ihm zu helfen? Bei Issib war es natürlich kein Problem, aber man konnte sich nur schwer vorstellen, daß er eine große Hilfe sein würde, auch wenn er seine Schwebeflossen trug. Er war zu auffällig und zu langsam.
Als sie sich den Weg durch die Wüste bahnten – Nafai ging voran, nicht, weil er es wollte, sondern weil Elemak sich weigerte, sie zu führen –, kam er allmählich zu einer unausweichlichen Schlußfolgerung: Allein hatte er eine viel bessere Chance als gemeinsam mit seinen Brüdern.
Nicht, daß er seine Chancen für großartig hielt, wenn er auf sich allein gestellt war. Aber die Überseele würde ihm helfen. Und die Überseele hatte ihm bereits geholfen, aus Basilika zu fliehen.
Doch als die Überseele ihn aus Basilika hinausgebracht hatte, hatte Luet seine Hand gehalten. Wo war seine Luet jetzt? Sie war die Seherin, die die Überseele so gut kannte wie Nafai seine eigene Mutter. Luet fühlte, daß die Überseele sie Schritt für Schritt führte; Nafai spürte die Führung der Überseele nur gelegentlich, so selten und auf verwirrende Weise. Was hatte seine Vision von einem Soldaten zu bedeuten, der mit blutbefleckten Händen durch Basilika ging? War das ein Feind, gegen den er kämpfen mußte? War es sein Tod? Oder sein Führer? Er war so verwirrt – wie sollte er sich da einen Plan ausdenken?
Er blieb stehen.
Die anderen hinter ihm hielten ebenfalls an.
»Was jetzt?« fragte Mebbekew. »Erhelle uns, o großer, von der Überseele ernannter Führer.«
Nafai antwortete nicht. Statt dessen versuchte er, seinen Geist zu leeren. Die Überseele sprach nicht so zu ihm, wie sie zu Luet sprach, weil Luet gar nicht erst erwartete, ihr würde ein Plan einfallen. Luet hörte zu. Hörte zuerst zu, verstand zuerst. Wenn Nafai der Überseele wirklich helfen, wenn er versuchen wollte, hier auf der Oberfläche dieser Welt ihre Hände und Füße zu sein, mußte er damit aufhören, törichte Pläne zu machen und der Überseele die Gelegenheit geben, zu ihm zu sprechen.
Sie waren in der Nähe der Hundestadt, die sich an den Straßen erstreckte, die durch das Tor, das als Rauchfang bekannt war, aus der Stadt führten. Bis jetzt hatte er angenommen, daß er die Hundestadt umkreisen, sich durch irgendeine Schlucht den Weg zur Waldstraße suchen und Basilika durch das Hintere Tor betreten solle. Doch nun wartete er und überprüfte die Möglichkeiten. Er dachte daran, einfach weiterzumachen und der Hundestadt auszuweichen, und seine Gedanken trieben ziellos umher. Dann dachte er an den Rauchfang, und augenblicklich verspürte er Zuversicht. Ja, dachte er. Die Überseele versucht, mich zu führen, wenn ich nur die Klappe halte und zuhöre. Wie ich hätte die Klappe halten und zuhören sollen, als Elemak am vergangenen Nachmittag mit Gaballufix feilschte.
»Ausgezeichnet«, sagte Mebbekew. »Gehen wir zu dem Tor, das am zweitstrengsten bewacht wird. Gehen wir durch das häßlichste Viertel, wo Gaballufix alles gehört, was zum Verkauf steht, und jeder Mensch obendrein.«