»Sei still«, sagte Issib.
»Laß ihn reden«, sagte Nafai. »Damit lockt er nur Gaballufix’ Leute an, und wir sterben sofort, was genau das ist, was Mebbekew will, damit er, wenn wir alle sterben, sagen kann: ›Seht ihr, Njef hat uns umgebracht!‹ Dann kann er wenigstens glücklich sterben.«
Mebbekew ging auf Nafai zu, doch Elemak hielt ihn zurück. »Wir werden schweigen«, sagte Elemak.
Nafai führte sie weiter, bis sie zur Hohen Straße gelangten, die von der Tor Stadt zur Hundestadt führte. Sie war auf weiter Strecke von Häusern umsäumt, aber zu dieser nächtlichen Stunde war es hier nicht besonders sicher, und es würden nur wenige Leute unterwegs sein. Nafai führte sie zu der breitesten Lücke zwischen den Häusern auf beiden Seiten der Straße, sah nach links und rechts, bückte sich dann und huschte hinüber. Dann wartete er in einem trockenen Graben auf der anderen Straßenseite auf die anderen.
Sie kamen nicht.
Sie kamen nicht.
Sie haben sich entschlossen, mich jetzt im Stich zu lassen, dachte Nafai. Nun gut.
Dann kamen sie. Nicht schnell und gebückt, wie Nafai hinübergelaufen war, sondern aufrecht und langsam. Alle drei. Natürlich, dachte Nafai. Es hatte gedauert, bis sie Issib aus dem Stuhl geholt hatten. Ich hätte daran denken müssen. Als sie über die Straße gingen, sah Nafai, daß Issib nicht schwebte, sondern von den beiden anderen getragen wurde. Er hatte die Arme über ihre Schultern gelegt, und die Füße baumelten schlaff hinab. Jeder, der die Wahrheit nicht kannte, würde Issib für einen Betrunkenen halten, dem seine Freunde nach Hause halfen.
Und sie gingen auch nicht geradeaus über die Straße. Statt dessen folgten sie ihr ein Stück, als würden sie sie entlang gehen, aber in der Dunkelheit die Orientierung verlieren oder von dem Betrunkenen, dem sie halfen, vom Weg abgebracht werden. Schließlich waren sie hinüber und schlugen sich in die Büsche.
Nafai stieß zu ihnen, als sie Issib gerade halfen, die Flossen wieder anzulegen. »Das war toll«, flüsterte er. »Tausend Leute hätten euch sehen können, und keiner hätte einen zweiten Gedanken an euch verschwendet.«
»Das ist Elemak eingefallen«, sagte Issib.
»Du solltest uns führen«, sagte Nafai.
»Der Überseele zufolge nicht«, sagte Elemak.
»Issibs Stuhl, meinst du«, sagte Mebbekew.
»Es war trotzdem gut, daß du zuerst allein hinübergegangen bist, Njef«, sagte Elemak. »Die Wächter suchen nach vier Männern, von denen einer schwebt. Statt dessen haben sie drei gesehen, von denen einer betrunken war.«
»Wohin nun?« fragte Issib.
Nafai zuckte mit den Achseln. »Da entlang, vermute ich.« Er ging in Richtung Rauchfangstraße voraus.
Er wurde abgelenkt. Er wußte nicht, was er nun tun sollte. Ihm fiel nichts ein.
»Halt«, sagte er. Er dachte daran, sie mitzunehmen, und es fühlte sich falsch an. Er dachte daran, allein zu gehen, und es fühlte sich richtig an. »Wartet hier«, sagte er. »Ich gehe allein in die Stadt.«
»Einfach brillant«, sagte Mebbekew. »Wir hätten bei den Kamelen warten können.«
»Nein«, sagte Nafai. »Bitte. Ich brauche euch hier. Ich mußte sicher sein, daß ich aus dem Tor kommen kann und euch hier finde.«
»Wie lange wird es dauern?« fragte Issib.
»Ich weiß es nicht«, sagte Nafai.
»Na ja, was hast du denn überhaupt vor?«
Er konnte ihnen schlecht sagen, daß er nicht die geringste Ahnung hatte. »Elemak hat uns auch nicht gesagt, was er vorhatte«, antwortete er.
»Genau«, sagte Mebbekew. »Spiele ruhig den großen Mann.«
»Wir werden warten«, sagte Elemak. »Aber wenn die Sonne aufgeht, wird uns jeder erkennen, und wir werden bestimmt festgenommen werden. Das ist dir doch klar.«
»Wenn ich beim ersten Morgengrauen noch nicht zurück bin, holt ihr Issibs Stuhl und geht zu den Kamelen.«
»So wird es geschehen«, sagte Elemak.
»Wenn wir uns danach fühlen«, sagte Mebbekew.
»Wir werden uns danach fühlen«, sagte Elemak. »Meb wird hier sein, genau wie die beiden anderen.«
Nafai wußte, daß Elemak ihn noch immer haßte, noch immer Verachtung für ihn empfand – aber er wußte auch, daß Elemak sein Wort halten würde. Elemak rechnete zwar damit, daß er scheiterte, würde ihm jedoch auch eine faire Chance geben, den Index zu beschaffen. »Danke«, sagte Nafai.
»Beschaffe den Index«, sagte Elemak. »Du bist der Junge der Überseele, also hole den Index.«
Nafai verließ sie und ging zum Rauchfang. Als er näher kam, sah er, daß die Wächter sich unterhielten. Es waren zu viele – sechs oder sieben, nicht die üblichen zwei. Warum? Er ging zur Mauer und schlich sich dann näher, bis er einigermaßen verstehen konnte, was sie sagten.
»Und ich bin der Ansicht, es ist Gaballufix selbst« sagte ein Wächter. »Wahrscheinlich hat er zuerst den Jungen des Wetschik getötet, damit er die Stadt nicht verlassen konnte, und dann Roptat, damit er die Schuld jemandem in die Schuhe schieben kann, der sich nicht mehr rechtfertigen kann.«
»Das klingt ganz nach Gaballufix«, sagte ein anderer. »Er und seine Männer sind doch der reinste Dreck.«
Roptat war tot. Nafai spürte, wie Furcht ihn durchströmte. Nach all den gescheiterten Versuchen war es schließlich doch passiert – Gaballufix hatte einen Mord begangen. Und die Schuld einem der Söhne des Wetschik in die Schuhe geschoben.
Mir, begriff Nafai. Ich bin der einzige, der die Stadt nicht durch ein bewachtes Tor verlassen hat. Für die Computer bin ich noch in der Stadt. Natürlich weiß Gaballufix das. Also hat er die Gelegenheit beim Schopf gepackt, ließ Roptat umbringen und verbreiten, der jüngste Sohn des Wetschik hätte es getan. Aber die Frauen wissen es. Die Frauen wissen, daß er lügt. Er ahnt es noch nicht, aber morgen früh wird jede Frau in Basilika die Wahrheit kennen – daß ich mit Luet auf dem See war, als Roptat ermordet wurde. Ich muß mich diese Nacht nicht einmal in die Stadt wagen. Gaballufix wird sich durch seine eigene Dummheit vernichten, und wir können außerhalb der Stadtmauern warten und uns ins Fäustchen lachen!
Doch er konnte den Gedanken nicht bewahren, außerhalb der Stadtmauern zu warten. Die Überseele wollte es nicht. Der Überseele war es egal, ob sich Gaballufix in seinem eigenen Lügengespinst fing. Die Überseele wollte den Index haben, und Gaballufix wollte den Index nicht herausgeben.
Wie komme ich an den Wächtern vorbei? fragte Nafai.
Als Antwort verspürte er nur seine Furcht. Daß sie nicht von der Überseele kam, wußte er.
Also wartete er. Nach einer Weile verebbte die Unterhaltung der Wächter. »Machen wir jetzt unsere Runde durch die Hundestadt«, sagte einer. Fünf von ihnen gingen zum Tor hinaus, in die Dunkelheit der Straße der Hundestadt. Wenn sie sich zum Tor umgedreht hätten, hätten sie Nafai gesehen, der keine zwei Meter vom Tor entfernt an der Mauer stand. Aber sie drehten sich nicht um.
Er wußte, jetzt war es soweit; seine Furcht hatte zwar nicht nachgelassen, aber nun verspürte er auch den Drang, sich zu bewegen, etwas zu unternehmen. Die Überseele? Er wußte es nicht genau, aber irgend etwas mußte er jetzt tun. Also hielt er den Atem an und trat in das Licht, das durch das Tor fiel.
Ein Wächter saß auf einem Stuhl, mit dem Rücken zur Mauer. Er schlief oder döste zumindest. Der andere erleichterte sich gerade an der gegenüberliegenden Mauer, dem Tor den Rücken zugewandt. Nafai ging leise hindurch. Keiner der beiden verließ seine Position, bis Nafai sich wieder aus dem Licht des Tors entfernt hatte. Dann hörte er ihre Stimmen hinter sich; sie sprachen, aber nicht über ihn, und sie schlugen auch keinen Alarm. So muß es auch Luet in der Nacht ergangen sein, da sie zu uns kam, um uns zu warnen, dachte er. Die Überseele hat die Wächter so dumm gemacht, daß sie sie passieren ließen, als wäre sie unsichtbar. So, wie ich jetzt das Tor passiert habe.