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Viel bleibe zu tun, sagte Urquijo. Die Inquisition sei noch mächtig, zur Abschaffung der Sklaverei sei es ein weiter Weg. Einflüsterer gebe es überall. Er wisse nicht, wie lange er noch standhalten könne. Im wahrsten Sinn gesprochen. Ob er sich klar genug ausdrücke?

Langsam und mit geballten Fäusten ging Humboldt zu Urquijos Schreibtisch, tunkte die Feder ein und schrieb ein Rezept. Chinarinde aus dem Amazonastief-land, Mohnextrakt aus dem mittleren Afrika, sibirisches Savannenmoos und eine in die Legende entrückte Blume aus Marco Polos Reisebericht. Von alldem ein starker Absud, davon der dritte Aufguß. Langsam trinken, jeden zweiten Tag. Es würde Jahre dauern, alle Zutaten zu sammeln. Zögernd reichte er Urquijo das Blatt.

Nie zuvor hatten Ausländer solche Papiere bekommen. Baron von Humboldt und seinem Assistenten sei jede Unterstützung zu gewähren. Sie seien zu beherbergen, freundlich zu behandeln, hätten Zugang zu jedem Platz, der sie interessiere, und könnten auf allen Schiffen der Krone reisen.

Nun, sagte Humboldt, müßten sie nur noch durch die englische Blockade.

Bonpland fragte, wieso da Assistent stehe.

Wisse er nicht, sagte Humboldt geistesabwesend. Ein Mißverständnis.

Könne man das noch ändern?

Humboldt sagte, das sei kein guter Einfall. Solche Pässe seien ein Geschenk des Himmels. Das stelle man nicht in Frage, damit mache man sich auf den Weg.

Sie nahmen die erste Fregatte, die von La Coruña aus in die Tropen aufbrach. Der Wind blies scharf von Westen, der Seegang war stark. Humboldt saß in einem Klappstuhl an Deck. Er fühlte sich frei wie noch nie.

Zum Glück, schrieb er in sein Tagebuch, sei er niemals seekrank. Dann mußte er sich übergeben. Auch das war eine Willensfrage! Mit äußerster Konzentration, und nur manchmal unterbrechend, um sich über die Reling zu beugen, schrieb er drei Seiten über das Gefühl des Aufbruchs, die übers Meer sinkende Nacht und die im Dunkel verschwindenden Küstenlichter. Bis zum Morgen stand er neben dem Kapitän und beobachtete ihn beim Navigieren. Dann holte er seinen eigenen Sextanten hervor. Gegen Mittag begann er den Kopf zu schütteln.

Nachmittags um vier legte er sein Gerät beiseite und fragte den Kapitän, wieso er so unexakt arbeite.

Er mache das seit dreißig Jahren, sagte der Kapitän.

Bei allem Respekt, sagte Humboldt, das erstaune ihn.

Man tue das doch nicht für die Mathematik, sagte der Kapitän, man wolle übers Meer. Man fahre so ungefähr den Breitengrad entlang, und irgendwann sei man da.

Aber wie könne man leben, fragte Humboldt, reizbar geworden vom Kampf gegen die Übelkeit, wenn einem Genauigkeit nichts bedeute?

Bestens könne man das, sagte der Kapitän. Dies sei übrigens ein freies Schiff. Falls jemandem etwas nicht passe, dürfe er jederzeit von Bord.

Kurz vor Teneriffa sichteten sie ein Seeungeheuer. In der Ferne, fast durchsichtig vor dem Horizont, hob sich ein Schlangenleib aus dem Wasser, bildete zwei ringför-mige Verschlingungen und blickte mit im Fernrohr sehr deutlich erkennbaren Edelsteinaugen zu ihnen herüber.

Um sein Maul hingen barthaardünne Fasern. Schon Sekunden nachdem es wieder untergetaucht war, glaubte jeder, er hätte es sich eingebildet. Vielleicht die Dünste, sagte Humboldt, oder das schlechte Essen. Er beschloß, nichts darüber aufzuschreiben.

Das Schiff ging zwei Tage vor Anker, um Vorräte auf-zufrischen. Noch im Hafen wurden sie von einer Gruppe käuflicher Frauen umkreist, die nach ihnen faßten und lachend die Hände über ihre Körper wandern ließen. Bonpland wollte sich von einer mitziehen lassen, aber Humboldt rief ihn scharf zur Ordnung. Eine trat hinter ihn, zwei nackte Arme schlangen sich um seinen Hals, ihre Haare fielen über seine Schulter. Er wollte sich losreißen, doch einer ihrer Ohrreifen hatte sich in einer Spange seines Gehrocks verfangen. Alle Frauen lachten, Humboldt wußte nicht, wohin mit seinen Händen. Endlich sprang sie kichernd zurück, und auch Bonpland lächelte, aber als er Humboldts Miene sah, wurde er ernst.

Dort sei ein Vulkan, sagte Humboldt mit zitternder Stimme, die Zeit sei knapp, kein Grund zum Trödeln!

Sie engagierten zwei Führer und stiegen hinauf. Hinter einem Kastanienwald kamen Farne, dann eine sandige Ebene voll Ginster. Humboldt bestimmte nach der Methode Pascals ihre Höhe durch Messung des Luftdrucks.

Sie übernachteten in einer noch mit Schnee gefüllten Höhle. Starr vor Kälte betteten sie sich in den Schutz des Eingangs. Der Mond stand klein und erfroren am Himmel, manchmal wehten Fledermäuse vorbei, der Schatten der Bergspitze lag scharf gezeichnet auf der Wolkendecke unter ihnen.

Ganz Teneriffa, erklärte Humboldt ihren Führern, sei ein einziger, aus dem Meer ragender Berg. Ob sie das nicht interessiere?

Um ehrlich zu sein, sagte einer von ihnen, nicht sehr.

Am nächsten Morgen stellten sie fest, daß auch die Führer den Weg nicht kannten. Humboldt fragte, ob sie denn nie hier oben gewesen seien.

Nein, sagte der andere Führer. Warum auch?

Das Schotterfeld um den Gipfel war kaum begeh-bar; jedesmal, wenn sie abrutschten, polterten Steine zu Tal. Einer der Führer verlor den Halt und zerbrach die Wasserflaschen. Durstig und an den Händen blutend, erklommen sie den Gipfel. Der Vulkantrichter war seit Jahrhunderten erkaltet, sein Boden mit versteinerter Lava bedeckt. Die Sicht reichte bis Palma, Gomera und zu den dunstumhangenen Bergen von Lanzarote. Während Humboldt mit Barometer und Sextant die Bergeshöhen prüfte, kauerten die Führer feindselig auf dem Boden, und Bonpland starrte frierend in die Ferne.

Halb verdurstet kamen sie am späten Nachmittag in die Gärten von Orotava. Benommen sah Humboldt die ersten Gewächse der Neuen Welt. Der Anblick einer haarigen Spinne, die sich auf einem Palmenstamm sonnte, erfüllte ihn mit Schrecken und Glück. Dann erst bemerkte er den Drachenbaum.

Er drehte sich um, doch Bonpland war verschwunden. Der Baum war riesenhaft und wohl Jahrtausende alt. Er war hier gewesen noch vor den Spaniern und vor den alten Völkern. Er war dagewesen vor Christus und Buddha, Platon und Tamerlan. Humboldt horchte an seiner Uhr. Wie sie, tickend, die Zeit in sich trug, so wehrte dieser Baum die Zeit ab: eine Klippe, an der ihr Fluß sich brach. Humboldt berührte den schrundigen Stamm. Weit droben liefen die Äste auseinander, das Zwitschern Hunderter Vögel durchdrang die Luft. Zärtlich strich er über die Rinde. Alles starb, alle Menschen, alle Tiere, immerzu. Nur einer nicht. Er legte seine Wange ans Holz, dann wich er zurück und sah erschrocken um sich, ob ihn jemand gesehen hatte. Schnell wischte er die Tränen weg und machte sich auf die Suche nach Bonpland.

Der Franzose? Ein Fischer beim Hafen zeigte auf eine Holzhütte.

Humboldt öffnete die Tür und sah Bonplands nackten Rücken über einer braunen, nackten Frau. Er schlug die Tür zu, ging eilig zum Schiff, blieb nicht stehen, als er Bonplands Laufschritt hinter sich hörte, und wurde auch nicht langsamer, als Bonpland, das Hemd über die Schulter geworfen, die Hose noch über dem Arm, atemlos um Verzeihung bat.

Wenn so etwas noch einmal vorfalle, sagte Humboldt, betrachte er die Zusammenarbeit als beendet.

Also bitte, keuchte Bonpland, während er im Laufen sein Hemd anzog. Manchmal überkomme es einen, sei das so schwer zu verstehen? Humboldt sei doch auch ein Mann!

Humboldt forderte ihn auf, an seine Verlobte zu denken.

Habe er nicht, sagte Bonpland und stieg in seine Hose.

Er habe niemanden!

Der Mensch sei kein Tier, sagte Humboldt.

Manchmal doch, sagte Bonpland.

Humboldt fragte, ob er nie Kant gelesen habe.

Ein Franzose lese keine Ausländer.

Er wolle das nicht diskutieren, sagte Humboldt. Noch einmal so etwas, und ihre Wege würden sich trennen. Ob er das akzeptieren könne?

Großer Gott, sagte Bonpland.