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Kurz vor Aranjuez geschah es. Henri hatte einen Umweg nehmen müssen. In einem kastilischen Dorf, das Villamanrique hieß und an dem Fluss Tajo lag, war er in einer kleinen Kapelle auf die Knie gesunken, um zu beten.

Es waren die Tage zu Fronleichnam. Da Henri de Roslin nirgendwo das Hochfest des Leibes und des kostbaren Blutes Christi mitfeiern konnte, hielt er an diesem Nachmittag seine eigene kleine Festfeier zu Ehren des Schmerzes und des vergossenen Blutes Jesu am Kreuze ab.

Er hatte auf seinem Weg Schiffsprozessionen auf allen Seen und Flüssen und zuletzt auf dem Tajo gesehen. Die Sakramente wurden, wie er wusste, von den Geistlichen auf einem Boot mitgeführt, von dem aus die Segnungen vorgenommen wurden. Henri sah oft vom Ufer aus sehnsüchtig hinüber, er hätte in dieser dunklen und gnadenlosen Zeit geistlichen Zuspruch und Trost gebraucht. Aber die Schiffe fuhren an ihm vorbei.

Henri musste weiter. Toledo wartete auf ihn, die Zeit drängte.

Als Aranjuez in Sicht kam, passierte Henri eine kleine Holzbrücke über den Fluss. Fischerhütten säumten das südliche Ufer, überall waren die Reusen zum Trocknen aufgespannt. Reiher flatterten auf, ihre Schwärme verdunkelten für einen Moment den Sommerhimmel.

Henri spürte seine Müdigkeit. Obwohl das Tal von Aranjuez grün und schattig war, flimmerte überall die Hitze. Henri hatte schon einige Zeit lang hinter sich eine Bewegung gespürt, Reiter, Hunde, sich verbergende Gestalten, aber er hatte nicht darauf geachtet.

Er ruhte sich jenseits der Brücke für einen Moment aus.

Überall floss hier kühles, reinigendes Wasser. Es strömte und schäumte in hundertfacher Gestalt dem kleinen Fischerort zu, in dem es, wie Henri wusste, ein Ritterkloster des Santiago-Ordens gab. Henri kannte die prächtige Residenz aus Kloster, Konvent und Kirche inmitten duftender Gärten von einem früheren Besuch. Darin hatten die Großmeister des Ordens schon mehrere kastilische Konvente, die Cortes, abgehalten. Die mächtigen Rittermönche, zu denen die Templer immer ein gespanntes Verhältnis besessen hatten, stammten aus Galizien und hatten es sich zur Aufgabe gesetzt, für das Andenken des heiligen Apostels Jacobus zu streiten. Henri wusste, dass sie zusammen mit den Fischern am Schilfufer des Tajo und Jamara die ersten Bewohner des Örtchens gewesen waren.

Sollte er dort verweilen? Aranjuez, das nur aus wenigen Häusern bestand, schien wie geschaffen für eine Pause. Hier sah er einen kleinen Wasserfall am Ende des Rias, der eine Schleife des Tajo verband, dort ein natürliches Wasserspiel oder ein Wehr, und all die Bäche, Flüsse und kleinen Seen verbanden sich zu einer aus allen Richtungen quellenden Hymne auf die Kraft und die Reinheit der Natur.

Plötzlich waren die Fremden da. Sie formierten sich aus Schatten zu geharnischten Gestalten und überrumpelten ihn. Sie bildeten einen Kreis um Henri. An ein Entkommen war nicht zu denken.

Henri war aufgesprungen. Er blickte in finstere Gesichter.

»Du bist Sarazene, nicht wahr? Wie ist dein Name?«

Henri sah den Sprecher an, der auf seinem nervös tänzelnden Schimmel saß, ein hoch gewachsener Mann in einer Rüstung, sein Haar war zu einer Art Krone geflochten.

Henri dachte überrascht an sein eigenes Aussehen, wie konnte man ihn für einen Sarazenen halten? Sein dunkles Haar war kurz geschnitten, sein Gesicht rasiert, er trug einen schlichten weißen Umhang über schwarzen Pluderhosen und einem ebenso weißen Wams. In seinem Ledergürtel steckten allerdings ein Kurzschwert und sein pfeildünner Panzersteckdolch.

»Ich heiße Henri de Roslin, Schotte, aus Frankreich kommend. Ich will nach Toledo, um dort einen jüdischen Freund zu besuchen.«

»Ach ja?«

»Er ist Lehrer an der berühmten Kabbala-Schule. Vielleicht kennt Ihr seinen Namen. Er heißt Theophil, ist ein Gelehrter und enger Vertrauter des Bischofs im teutonischen Speyer, des Schutzherrn der Juden.«

»Das sind doch Ausreden! Du siehst aus wie ein Araber, Fremder!«

»Ist Iberien ein so finsteres Land geworden, dass es keine Araber mehr erträgt?«

»Wir machen Jagd auf Sarazenen, es gibt ein Kopfgeld! Hast du noch nichts von der Reconquista gehört? Wir holen uns unser Land zurück.«

»Iberien habt Ihr nie vor den Mauren besessen, mein Freund. Hier siedelten Westgoten. Es gab kein Land Spanien in dieser Zeit.«

»Halt’s Maul! Oder ich werde dich…!«

Ein Rittermönch ließ sein Pferd auf Henri zuspringen und hob seine Lanze. Doch der Anführer rief ihn zurück. Im letzten Moment, denn Henri hatte bereits sein Kurzschwert aus dem Gürtel gerissen und war kampfbereit.

»Wer sich mir nähert, der stirbt!«, rief er mit seiner wohltönenden, durchdringenden Baritonstimme.

»Er muss Sarazene sein! So verhalten sich keine friedlichen Christen! Er wagt es, gegen den Santiago-Orden die Waffe zu erheben!«

»Es ist Notwehr! Ich mache keinen Unterschied! Wer mich bedroht, bekommt mein Schwert in den Hals!«

»Ihr werdet uns in unser Kloster am Fluss begleiten, Fremder! Dort sehen wir dann schon, wer Ihr wirklich seid. Unser Großmeister soll entscheiden, was wir mit Euch machen.«

Henri überlegte. Es hatte keinen Zweck, sich gegen die Übermacht zu wehren. Vor sich hatte er erfahrene Krieger, die schon manchen Strauß mit Feinden auf den Pilgerwegen nach Santiago de Compostela ausgefochten hatten. Und er betrachtete die Kriegsmönche nicht als seine Feinde, obwohl sie einen schlechten Ruf als arrogante Herrenmenschen besaßen.

Sie eskortierten ihn. Auf dem Weg durch den Ort traute Henri seinen Augen nicht.

Er kannte Aranjuez. Die Plaza de Armas war einst eine stille, grüne Oase mit Blick auf die Palacios ringsum gewesen. Davon war nur noch ein Trümmerfeld übrig. Auf allem lagen Rauch, Staub, Gestank. Erfüllte sich eine Prophezeiung? Hielt Gott ein Strafgericht über die Bewohner wie weiland in Sodom und Gomorrha? Männer in Lumpen waren überall damit beschäftigt, lange Rammböcke aus Holz gegen Mauern zu hämmern. Ein Gestank nach Brand und Moder lag in der Luft, Staub verdunkelte den Himmel. Pausenlos dröhnte der Schlag von gehärteten Holzhämmern auf Stein, und ein durchdringendes Knirschen wie von herunterrutschenden Felsen zog vorüber.

Was war hier los?

»Ein kleiner Rachefeldzug«, knurrte der neben ihm reitende Kriegsmönch, als er Henris fragenden Blick bemerkte. »Die Bewohner haben sich von uns abgewendet, sie fordern Versöhnung mit den ungläubigen Mauren, die den falschen Propheten anbeten. Aber das geht dich nichts an.«

Sie erreichten das Klostergelände. Man forderte Henri auf, abzusitzen. Direkt vor der Komturei floss der Tajo vorbei. Am jenseitigen Ufer erhob sich in diesem Moment ein Schwarm Kraniche. Die Vögel verschwanden Richtung Süden, wo die Auen des Jamara reiche Nahrung an Fischen und Kleintieren boten. Henri seufzte bei diesem Anblick. Wie oft hatte er sich als kleiner Junge gewünscht, auf dem Rücken der majestätischen Vögel bis nach Jerusalem, ins Heilige Land, fliegen zu können. Wenig später war er tatsächlich dorthin gelangt, aber auf dem Seeweg, und nur, nachdem er als Knappe der Tempelritter den Fall der letzten christlichen Bastion Akkon in Blut und Tränen erlebt hatte.

Als er den Raum des Großmeisters betrat, verschloss dieser schnell einen Siegelring in einer Schatulle, die ein Madonnenrelief aus Elfenbein schmückte.

»Was ist?« Seine Stimme klang barsch.

»Ein Sarazene! Wir haben ihn in der Nähe aufgespürt. Wir glauben, er führt etwas im Schilde.«

»So nehmt ihm doch die Waffen ab!«

Henri legte freiwillig Kurzschwert und Dolch vor sich auf den roten Samtteppich. Er wiederholte, wer er sei. Der Großmeister sah ihn unschlüssig an. Henri glaubte zu sehen, wie er unter seinem Gewand mit dem goldenen Granatapfelmuster zu schwitzen begann. Sein edles, leicht gebräuntes Gesicht wurde eine Spur bleicher.

»Dann seid Ihr der Templer Henri de Roslin?«