Выбрать главу

Er folgte dem Kapo und fühlte, wie Verzweiflung in ihm aufstieg. Wenn sie ihm die Zeit verkürzten, die er für die Geige brauchte, würde er es nicht schaffen, sie rechtzeitig zu vollenden. Was hatten sie bloß mit ihm vor, was sollte er in der Schneiderei? Er konnte weder bügeln noch gut genug nähen: Sie konnten ihn lediglich dazu einteilen, die Kleidungsstücke der Toten zu waschen, die immer wieder verwendet wurden.

Seit vielen Monaten hatte er keine kräftige und gutaussehende Frau mehr zu Gesicht bekommen, ihn faszinierte daher der Körper der Aufseherin, die mit einem Gummiknüppel in der Hand, der vollkommen überflüssig war, die blassen, abgemagerten Frauen und Mädchen überwachte, während diese einen Berg bereits sauberer Wäsche sortierten und bügelten. Mit einem Blick stellte er fest, dass auch Kinderkleidung darunter war – von den wenigen Kindern, die vor der Selektion im kleinen Lager überlebt hatten. Auf einem anderen Stapel befand sich zerschlissene Wäsche, die nicht mehr zu flicken war und sicherlich zur Papierherstellung dienen würde. Alles wurde verwertet, das wusste Daniel. Den »Gesunden« hatten sie nicht in den Mund geschaut, die Kranken jedoch – das hatte er mit eigenen Augen gesehen – wurden von einem Zahnarzt untersucht, auf dessen Tisch Pinsel und Farbe standen. Nach dem Tag des »Reinemachens« war ihnen klar, dass der Pinselstrich mit Ölfarbe auf dem nackten Körper diejenigen kennzeichnete, die Goldzähne hatten.

Er war aber nicht zum Wäschewaschen abkommandiert worden. Zusammen mit drei weiteren Häftlingen brachte man ihn zu einem Schneider, einem geschickten kleinen Mann, der Maß nahm, sie recht gut erhaltene Kleidung anprobieren ließ und zum Aufseher sagte, sie sollten in ein paar Tagen wiederkommen, um sie nochmals zu probieren und dann mitzunehmen. Diese Vorgehensweise war ihnen unverständlich, obwohl sie neue Kleidung bitter nötig hatten. Ihre war so alt und fadenscheinig, dass sie die Kälte des letzten Winters kaum abzuhalten vermocht hatte – Lungenentzündungen hatten unter den Häftlingen gewütet. Warum man ihnen jetzt anständige Kleidung zuteilen wollte, war ihnen ein Rätsel. Sie sprachen darüber, als sie die »Schneiderei« verließen, konnten sich allerdings keinen Reim darauf machen. Einer von ihnen stellte die Vermutung an, man würde sie vielleicht in ein kälteres Lager im Norden deportieren, er hatte bemerkt, dass die Jacken dick und gut gefüttert waren, aber diese Theorie schien ihnen allen absurd. Wann hatten sich die Schweine jemals um ihre Gesundheit Gedanken gemacht?

Daniel zerbrach sich nicht weiter den Kopf und kehrte mit dem anderen Tischler, der ebenfalls in die Schneiderbaracke geschickt worden war, an seine Arbeit zurück.

Am nächsten Tag erschien ein Untersturmführer, der als besonders grausam verschrien war, in Begleitung eines SS-Mädchens, und es wurde ihnen befohlen, sich Schuhe und die neuen Kleider anzuziehen. Die beiden waren frühmorgens überraschend in die Werkstatt gekommen – es war noch nicht einmal richtig hell -, hatten hier und da etwas zurechtgerückt und befahlen nun den neu eingekleideten Häftlingen zu gehorchen, ohne Fragen zu stellen. Eine der Anordnungen war allerdings sehr schwierig zu befolgen: Sie sollten, kaum waren sie zurechtgemacht und ihre Gesichter geschminkt, so tun, als würden sie in Freiheit arbeiten: »Jetzt lächeln«, sagte der SS-Mann, »sonst seht ihr die Kartoffeln von unten wachsen.«

Das war eine gängige Ausdrucksweise, um auf die Toten anzuspielen. Zweifellos brauchten sie Fotos für ihre Propaganda, schließlich hatten sie schon einige Male Filme gedreht, die die Sachlage verfälschten – frei nach dem Motto: Die Lagerinsassen arbeiten glücklich und zufrieden oder Jedem die Arbeit, die ihm Spaß macht. Daniel fühlte Zorn in sich aufsteigen, und er spürte, wie sein Gesicht unter der Schminke rot anlief. Der SS-Mann grinste und schwang den Knüppel. Damit dieser nicht auf sie niedersauste, rangen sich die beiden Häftlinge ein Lächeln ab, soweit sich ihre geöffneten Lippen und ihre vor Schrecken weit aufgerissenen Augen als solches bezeichnen ließen. Die junge Frau porträtierte sie in verschiedensten Posen, und sie entgingen den Schlägen um den Preis der Selbsterniedrigung – welch doppelte Bitterkeit!

»Ausziehen«, hieß es dann, und die Fotografin und der Mann lachten, während sie auf die abgemagerten Körper deuteten.

Schweigend streiften sie sich die alten Kleider wieder über. Sie waren der Strafe entgangen, doch hatten sie zur Belohnung nicht einmal ein wärmendes Kleidungsstück behalten dürfen. In den alten Fetzen und mit den Holzschuhen an den Füßen kehrte Daniel an seinen Arbeitsplatz zurück. Es fiel ihm schwer, seine Hände zitterten noch vor Aufregung; die erlittene Demütigung, das erzwungene Lächeln, das er den Feinden dargeboten hatte, quälten ihn. Er wusste nicht, wie lange er noch in der Lage sein würde, unter diesen Bedingungen zu arbeiten, obwohl er jung war und sein Lebenswille noch nicht verwelkt. Zu seinem großen Erstaunen reichte ihm der Aufseher den Rest seines Biers. Also waren die beiden auch ihm verhasst gewesen und die Komödie mit den Fotos ihm ebenso nahegegangen. Daniel trank gierig und bedankte sich; dann presste er seine Hände zwei- oder dreimal kräftig zusammen und bekam schließlich das Zittern in den Griff.

Seine Gedanken kehrten zur Geige zurück. In den letzten Tagen hatte er den Boden und den Zargenkranz fertiggestellt, und nun begann er, mit einem kleinen Hammer auf die winzigen Keile zu klopfen, die den Boden am Modell befestigten. Da er umsichtigerweise bloß zwei Tropfen Knochenleim aufgetragen hatte, konnte er ihn nach kurzer Zeit ohne Schwierigkeit lösen. Das entschädigte ihn für die schrecklichen Fotoaufnahmen; er atmete tief durch, war zufrieden, diese vollendete Form in Händen zu halten. Er hatte sich auf keinerlei Experimente eingelassen, die Außenmaße entsprachen exakt der Norm, die er auswendig wusste; er überprüfte sie nochmals: 335 Millimeter lang, die Brüste (wie er zu sagen pflegte) 165, die Taille 115, die Schenkel 205. Er streichelte das geliebte Instrument, diese Geige, die ihn vielleicht retten würde, sobald er die Handgriffe, die noch fehlten, ausgeführt hatte: das Einlassen der Flödel, der Wirbelkasten, die letzten Arbeiten am Hals, das Einsetzen des Stimmstocks … Viele kleine Schritte, und am Ende, bevor er die Teile zusammenfügte, die Auswahl des geeigneten Lacks. Noch war er allerdings weit von diesem Punkt entfernt.

Als die Sirene schrillte, bedauerte er es, dass ihm keine Zeit mehr blieb, die Verstärkungen der Zargen anzufertigen oder mit dem Polieren zu beginnen. Er konnte es jedoch nicht riskieren, die Mahlzeit auszulassen, und durfte auf keinen Fall durch sein Verhalten Aufmerksamkeit erregen, vielleicht neidete ihm schon der eine oder andere Mithäftling die zwei Schluck Bier, das konnte doch sein! Um sich Mut zu machen, dachte er an Freund und an Bronislaw, der sicherlich den ganzen Vormittag damit zugebracht hatte, Rüben zu schneiden und Töpfe zu reinigen, mit seinen goldenen Händen, die die Saiten zum Klingen brachten, mit seinen Fingern, die eines Tages am Griffbrett dieser im Lager gebauten Geige entlanggleiten würden. Er dachte an den Künstler, nicht an den Kommandanten, der das gar nicht verdiente. Bei diesen Gedanken fand er die Suppe besser als sonst, und er ertrug gelassen die Scherze, die die Kameraden über seine Schminke machten, er selbst hatte sie schon längst wieder vergessen. Am Abend würde er Zeit haben, sie abzuwaschen, heute war er mit dem Duschen an der Reihe, jetzt aber musste er sich um sein Essen kümmern. Wie so oft zu dieser Stunde kamen ihm die Mahlzeiten in den Sinn, die seine Mutter zubereitet hatte; mit der Zeit überlagerte die Erinnerung an seine Mutter das verschwimmende Bild Evas. Die Mutter und die kleine Regina. Er dachte an den Geruch, der ihm manchmal schon auf der Treppe verraten hatte, was es zu essen gab: Fleischbrühe mit Nudeln, dicke Gemüsesuppe oder Teigwaren mit gehackten Nüssen auf einem stets schön gedeckten Tisch, und daneben, immer wenn es Fleisch gab, der »Käsetisch«. Das alles lag lang zurück, vor den im Ghetto verbrachten Wochen und Monaten. Und jetzt bekamen sie Rüben und nochmals Rüben, Rübensuppe und fertig!