Выбрать главу

Die Begleitung verstummte: Ein Violinsolo bildete den Abschluss, und die Geige klang weich und voll. Der Musiker hatte die Augen geschlossen, ließ die letzten Töne ausschwingen. Nun – dachte er unvermittelt – würde der Applaus einsetzen, der sein ständiger Begleiter gewesen war, seit er mit zwölf sein erstes Konzert gegeben hatte. Inzwischen war er sechsundzwanzig.

Er öffnete die Augen, kam zu sich, und sogleich war ihm wieder bewusst, wo er sich befand; dennoch befremdete ihn der spärliche Beifall. Der Kommandant klatschte ein paarmal in die Hände, und die beiden Musiker verbeugten sich vor dem Schwein.

»Ihr habt gut gespielt« – Bronislaw atmete befreit auf, als er das hörte -, »und die Geige klingt tadellos.«

Seine Erleichterung war umso größer, weil er wusste, dass das Instrument nicht genügend lang hatte trocknen können. Der Kommandant blickte ironisch lächelnd und zufrieden zu Rascher und sagte:

»Ihr beide und der Geigenbauer« – diesmal sagte er nicht: der kleine Tischler – »werdet bis auf weiteres nicht in den Steinbruch geschickt.« Dann drehte er sich zu dem halben Dutzend Gästen um:

»Meine Herren, die Musiker haben sich wirklich ein Trinkgeld verdient.«

Daraufhin wandte er sich an seinen Adjutanten, der ihm eine Münze reichte. Jetzt wird er sie mir geben, dachte Bronislaw, aber das geschah nicht. Der Cellist hatte seinen Instrumentenkoffer offen gelassen, und der Kommandant warf das Geldstück hinein, wie bei einem Straßenmusikanten; die Gäste, unter ihnen ein Mädchen in SS-Uniform, folgten seinem Beispiel, und der Cellist bückte sich hastig, um die Münzen mit der verhassten Prägung einzusammeln. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er schon an das Essen dachte, das er dafür vielleicht bekommen würde. Bronislaw jedoch würde sich heute nicht bücken, wenn sie ihn nicht dazu zwangen, nicht jetzt, nachdem er mit seiner ganzen Seele gespielt hatte, nachdem er musiziert hatte wie der leibhaftige Corelli selbst, um Daniels Leben zu verteidigen; mit vor Wut verschleierten Augen dachte er, während er das wunderschöne Instrument an sich drückte: Ich werde mich nicht vor ihnen bücken, für einige Augenblicke bin ich ein Prinz.

»Was machst du da? Her mit der Geige!« Er hatte sich geradezu an das Instrument geklammert! Widerwillig, mit glühenden Wangen und mit brennender Wut in seinem Inneren legte er die geliebte Geige und den Bogen in die Hände des Schweins, der sie den anderen zeigte und sich dabei brüstete, als hätte er sie selbst gebaut. Bronislaw hatte beobachtet, dass einer der Anwesenden keine Münze in den Cellokoffer geworfen hatte und ihn wohlwollend ansah; das Gesicht kam ihm bekannt vor, und er bemerkte, dass der Mann eine Wehrmachtsund keine SS-Uniform trug. Wahrscheinlich war er ein bekannter Musiker, den man kürzlich einberufen hatte. Er ging auf den Geiger zu und drückte ihm unverhohlen eine Banknote in die Hand.

»Jetzt verschwindet hier! Raus!«, schrie Sauckel plötzlich und wandte sich ab. Offensichtlich wollte er sich nun endlich die Speisen schmecken lassen, die man unter den glänzenden Deckeln auf dem mit Blumen geschmückten und mit weißen Servietten gedeckten Tisch erahnen konnte, als ob zwischen dem Rot der Weinflasche und den Gläsern für den gekühlten Champagner, der wohl später serviert werden würde, das Lager und der Krieg überhaupt nicht existierten. Sie verließen den Saal, sein Kamerad mit seinem Instrument, er hingegen der Geige beraubt. Draußen mussten sie wie jedes Mal die Konzertkleidung wieder ausziehen, so war es Vorschrift.

Bronislaw sagte zum Cellisten: »Wir teilen das Geld unter uns dreien auf«, und er faltete den Schein auseinander, um zu sehen, wie viel er wert war. Darin eingewickelt befand sich ein winziges, zusammengefaltetes Stück Papier, das er vor seinem Kameraden und vor allen anderen geheim hielt, indem er es aufaß. Denn darauf standen die unglaublichen Worte, leuchtend, als wären sie mit Goldfarbe eingraviert: Ich hole dich hier raus.

Der Geiger setzte den Bogen noch zweimal entschlossen und doch weich auf die Saiten. Er hatte dieses Stück seit langer Zeit nicht mehr gespielt, aber der Vortrag war von Anfang an gelungen, die Melodie schwebte ergreifend durch den Raum, die Intonation war perfekt, wie er selbst als Erster bemerkte.

Während der letzten Takte hatte er die Augen geschlossen, er musste die Partitur nicht sehen, um das Stück mit Präzision zu Ende spielen zu können. Er hielt einen Augenblick inne und ließ dann das Thema ausklingen. Seine Gedanken schweiften von der Musik ab, und er fragte sich, ob der Kommandant wohl zufrieden sein würde, ob er Daniels Leben und das seine hatte retten können. Stürmischer Applaus befreite ihn von der bitteren Vision. Mein Gott, was war mit ihm los? Ein Klavier und nicht das Cello begleitete ihn, er und sein Partner verbeugten sich auf der Bühne, eine Blumenpracht umgab sie. Nimmer endender Applaus ertönte, das Publikum erhob sich begeistert, der Pianist deutete ihm, weiter nach vorne zu gehen, um sich nochmals zu verneigen. Ein hübsches Mädchen überreichte beiden eine flammendrote Rose, bedankte sich charmant, und Bronislaw erhielt außerdem einen Stamm Orchideen.

Alles erschien wie ein Traum, obwohl er sich vermeintlich sicher bewegte, lächelte und sich so verhielt, wie man es von einem Virtuosen erwartet. Er signierte einige Konzertprogramme für Musikliebhaber, die ihn darum baten, und später nahm er am Smörgås teil, zu dem er geladen worden war, bevor er endlich in sein stilles Haus zurückkehren konnte. Er wollte aber nicht gleich zu Bett gehen, denn er war sich sicher, wieder von dem alten Alptraum heimgesucht zu werden.

»Ich werde noch ein bisschen lesen«, sagte er zu Ingrid, die wusste, wie ihm zumute war.

Der Raum war durch die Heizung gut temperiert, doch Ingrid hatte zusätzlich Feuer im Kamin gemacht. Er setzte sich direkt davor, wie er es gerne tat, und schenkte sich ein Glas kühlen, leichten Weißwein ein; für eine Weile schloss er die Augen, bevor er in dem Buch blätterte, das er vor einigen Tagen angefangen hatte zu lesen.Vielleicht würde es ihn ja auch heute von seinen Erinnerungen ablenken, die so hartnäckig waren. Diesmal war er selbst schuld daran gewesen, denn er hätte die Follia von Corelli nicht spielen sollen, dieses Stück, das er all die Jahre nicht hatte interpretieren wollen und das ihn zwangsläufig ins Lager zurückkehren ließ. Jetzt, in der Ruhe seines Hauses, nach so langer in relativem Frieden verbrachter Zeit, war er erstmals dazu in der Lage, sich ohne Schrecken an die Vergangenheit zu erinnern, jetzt, wo sein Haar bereits weiß war.

Was mochte wohl aus seinen Leidensgenossen geworden sein? Er hatte nie über jene Zeit sprechen wollen, und bei vielen Kameraden erinnerte er sich nicht einmal mehr daran, wie sie aussahen, aber Daniel, diesen außergewöhnlichen Geigenbauer, sah er noch genau vor sich, als ob der Schein des Kaminfeuers seine Gesichtszüge erhellte. Diese wachen Augen, die der Hunger nicht völlig zum Erlöschen hatte bringen können und die alle Regungen seines Geistes widergespiegelt hatten: den Mut, die Furcht, den Zorn und die Verzweiflung, als er erfahren musste, dass sie ihn als Einsatz gegen eine Kiste französischen Wein ausgespielt hatten. Auch seine schlanken, ein wenig rissigen, so geschickten Hände sah er deutlich vor sich und die unauslöschliche Tätowierung, die auch er selbst trug. Die Hände, die ihm zum Abschied nachgewinkt hatten, als er, vom Schicksal begünstigt, zusammen mit einem alten Häftling und acht kränklichen Frauen das Lager verlassen konnte: Das war der Anteil gewesen, den das Dreiflüsselager zum Handel beigetragen hatte; ja, der Graf Bernadotte hatte sie zusammen mit vielen weiteren Häftlingen aus anderen Todeslagern gegen Lastwagen eingetauscht. Er war davon überzeugt, dass er dank des Wehrmachtoffiziers, der ihm den Geldschein zugesteckt hatte, auf der glückseligen Liste gestanden hatte. Mein Gott, was war das für eine Reise gewesen … Hart, unendlich lang, über verwüstete Felder, mit glühender Hoffnung im Herzen. Unbändige Freude und gleichzeitig ein bedrückendes Schuldgefühl hatten ihn eingenommen, als er an die Kameraden zurückdachte, vor allem an seine Triopartner und mehr noch an Daniel, der weiterhin den Schweinen ausgeliefert war.