Heute konnte er sich nicht mehr auf die Lektüre konzentrieren. Er machte leise ein wenig Musik an, doch auch sie vermochte ihn nicht zu zerstreuen. Morgen würde er auf andere Gedanken kommen, denn am Abend wollten sie in ihr Wochenendhaus fahren, das am Ufer eines von Birken gesäumten Sees lag, über den Enten und Schwäne glitten. Niemals mehr wollte er Schweden, das Land, das ihnen Zuflucht gewährt hatte, verlassen. Niemals. Seine Gefangenschaft war nicht ohne Spuren geblieben: Er hatte eine ununterdrückbare, irrationale Angst vor Reisen und davor, aus diesem Land fortzugehen. Aus diesem Grund hatte er auch bald auf Konzerttourneen verzichtet, sie bescherten ihm Alpträume, er war höchstens für den einen oder anderen Auftritt in die Nachbarländer gereist, nach Dänemark oder Norwegen, die Heimat von Sibelius, wo er sich sicher fühlte. Sobald er seine Papiere in Ordnung gebracht und die schwedische Staatsbürgerschaft erlangt hatte, hatte er einen Lehrstuhl am Konservatorium angenommen. Seine seltenen Konzerte fanden höchste Anerkennung, und bald kamen Geiger aus aller Welt, um die Kunst des Fingersatzes und der klassischen Kadenz von ihm zu erlernen.
Nein, sagte er sich jetzt, er würde die Follia nie wieder vortragen. Er hatte sie erstmals und mit ganzer Seele vor dem gehassten Tyrannen auf der Geige gespielt, die sein Freund unter größter Anstrengung gebaut hatte. Es kam ihm so vor, als ob seitdem noch nicht viel Zeit vergangen war. Sie hatten beide den Gedanken nicht ertragen können, das wunderschöne Instrument dem Kommandanten zu überlassen, sie hatten sogar Pläne geschmiedet, es auszutauschen. Am Tag nach der Aufführung hatte Bronislaw nicht gewusst, wie er Daniel beruhigen, seine Zweifel noch einmal zerstreuen sollte, denn man hatte ihnen nur gesagt, dass sie »bis auf weiteres« an ihrem Arbeitsplatz bleiben würden. Kein einziges Wort war von den verhassten Lippen über das künftige Schicksal des Geigenbauers zu hören gewesen. Hatte er die Geige rechtzeitig abgeliefert? Sie glaubten es zwar, aber sie wussten es nicht, und diese Ungewissheit war für Daniel schwer zu ertragen gewesen.
Einige Tage nach der Einweihung des Instruments erzählte ihm der Geigenbauer eines Abends, dass Sauckel ihn am Tag zuvor gegen Mittag aus der Tischlerei hatte holen lassen; er schilderte in allen Einzelheiten, wie man ihn zum Haus des Kommandanten gebracht und ihm dieser – das war in der Tat ungewöhnlich – zur Geige gratuliert hatte. Wie er, Daniel, vor ihm strammstand, während sein Herz heftig schlug und er darauf wartete, endlich von der Ungewissheit erlöst zu werden und den Händen Raschers entkommen zu sein. Da hörte er den Nachsatz:
»Ich habe beschlossen, dich zu belohnen, obwohl du nur deine Pflicht erfüllt hast.«
Mit Mühe brachte Daniel ein »Vielen Dank« über die Lippen. Doch was dann folgte, entsprach nicht im Geringsten seiner Erwartung; der Kommandant wandte sich an seinen Adjutanten und sagte:
»Bringt ihn in die Küche und gebt ihm etwas zu essen. Schnell, die Fabrik ruft.«
Die Enttäuschung hatte ihm beinahe den Hunger genommen, aber einmal in der Küche angelangt, verschlang er dennoch das Fleisch und Gemüse, das ihm die Köchin vorsetzte. Den ganzen Nachmittag – so berichtete er Bronislaw – war er bei der Arbeit den Gedanken nicht losgeworden, das Schwein würde ein Spiel mit ihm treiben, in der Annahme, dass der Musiker und er über die Wette Bescheid wussten und nun auf deren Ausgang warteten. Der Geiger sollte sogleich alle weiteren Einzelheiten erfahren.
Am Tag nach der warmen Mahlzeit holte ein Kapo Daniel und einen noch jüngeren Tischler aus der Werkstatt:
»Mitkommen!«
Sie legten ihre Werkzeuge nieder und hatten Mühe, ihm zu folgen, da er im Gegensatz zu ihnen richtige Schuhe trug und sich deshalb ohne Beeinträchtigung bewegte.
»Schnell, schnell!« Er wandte den Kopf und drängte sie zur Eile.
»Marsch, ihr Faulpelze! Wir werden im Haus des Sturmbannführers erwartet, ein Lieferwagen ist abzuladen.«
Er bereut es schon, mich beglückwünscht zu haben, dachte der Geigenbauer, und nun soll ich die Mahlzeit abgelten, indem er mich Kisten abladen lässt und mir so zeigt, dass ich durch den Bau der Geige keinerlei Privilegien habe. Nicht zum ersten Mal unterbrachen ihn derartige Befehle bei der Arbeit. Er wunderte sich allerdings, dass Sauckel mit dem Hund an seiner Seite auf dem Treppenabsatz vor dem schon zum Teil bepflanzten Wintergarten stand und das Treiben überwachte. Doch bald verstand er, warum, es waren nämlich neue Pflanzen eingetroffen. Also gingen sie zum Lieferwagen, und Daniel lud, den Anweisungen folgend, drei große Rosenstöcke ab, einen nach dem anderen. Ihr Gewicht ließ ihn in die Knie gehen; er war es nicht gewöhnt, solche Lasten zu tragen, und es strengte ihn sehr an. Als er zum dritten Mal mit einem schweren Blumentopf die Treppe hinaufstieg, mit diesen Holzschuhen an den Füßen, schwankte er, und beim Hinuntergehen wurde ihm so schwindlig, dass er stehen bleiben musste, um Luft zu holen. Der Adjutant schlug ihn mit dem Knüppel – wenigstens nicht sehr fest.
»Gut so, Markus.« Das Monster lächelte zustimmend: »Lass sie bloß nicht faul werden, die Arbeit ist noch nicht getan.«
Daniel nahm die wenige ihm noch verbliebene Kraft zusammen und kroch in das Innere des Lieferwagens, um die ganz hinten liegende, sperrige Kiste hervorzuholen, während sein Kamerad den letzten Pflanzentrog ablud. Als er sie aufhob, erstarrte er. Seine Augen lasen die großen roten Buchstaben, und er hörte das Klirren der Flaschen. Es war in der Tat eine KISTE BURGUNDER. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er fiel der Länge nach zu Boden.
Wir haben gewonnen.«
»Du bist es, der gewonnen hat.«
Sie konnten sich erst am Abend treffen; und nun saßen sie auf einer Steinbank, umarmten sich und lachten und weinten ohne Scham. Nein, dachte Bronislaw, nicht der Scheißkerl hatte die Wette gewonnen, sondern Daniel, wenn auch, wie er mit Sorge feststellte, um den Preis der absoluten Erschöpfung. Die weiteren Einzelheiten, die der Geiger geduldig und aufmerksam anhörte, während er seinen Arm um die schmale Schulter seines Freundes legte, waren eigentlich nicht mehr so wichtig. Er erfuhr, wie Daniel immer noch benommen und schwach wieder zu Bewusstsein gekommen war, nachdem sie ihm kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet hatten, wie er, noch immer am Boden liegend, das Lachen des Kommandanten und seines Adjutanten gehört hatte, wie sie schließlich seinem Mithäftling erlaubt hatten, nachdem die restlichen Kisten abgeladen waren, ihm aufzuhelfen und ihn in die Krankenstation zu begleiten, damit man die Platzwunde auf der Stirn versorgte, wobei er sich auf den Arm seines Kameraden hatte stützen müssen.
»Lass ihn verarzten, am Nachmittag soll er wieder an die Arbeit, dieser Schwächling.«
Doch diese hämischen Worte machten Daniel nichts mehr aus. Er hatte gewonnen, er hatte die Geige, seine Daniel Cracoviensis rechtzeitig fertiggebaut. Seit Rascher fort war, herrschte in der Krankenbaracke ein angenehmeres Klima, und es gab Anweisungen, die Häftlinge mit »heilbaren« Krankheiten entsprechend zu behandeln. Und der jüdische Arzt, der unter Aufsicht des deutschen Stabsarztes arbeitete, tat sein Bestes. Während er die Wunde desinfizierte und versorgte, flüsterte Danieclass="underline"
»Ich habe gewonnen! Ich brauche das Zyankali nicht mehr, das du mir gegeben hast.«
Den schweigsamen und hilfsbereiten Arzt hatten sie als Einzigen in das Geheimnis eingeweiht. An dem Tag, als Daniels Geige endlich vollendet war, hatte ihn der Geigenbauer unter dem Vorwand einer selbst zugefügten Wunde am Handrücken aufgesucht, und der Arzt war bereit gewesen, ihm eine Giftkapsel zu überlassen. Nun drückte der Arzt Daniel die Hand und steckte ihm eine Vitamintablette zu: »Du hast sie dringend nötig.«