Er hatte das Gift nicht schlucken müssen. Sie würden ihn nicht an einen Ort bringen, der schlimmer war als der Tod, ihn nicht den Kälte-Versuchen und auch nicht den stählernen Augen Raschers ausliefern, die sämtliche Qualen des Todeskampfes auszuforschen trachteten.
»Es war wohl ganz schön knapp mit der vereinbarten Frist«, sagte Bronislaw. »Deshalb haben sie mich auch ein paar Tage von der Küchenarbeit freigestellt und befahlen mir, dir in der Werkstatt zur Hand zu gehen.«
Er hatte ihm nicht wirklich helfen können, abgesehen vom Zureichen der Werkzeuge und bei den Versuchen, den richtigen Lack zu finden, oder beim Zerstoßen des Aloepulvers im Mörser; aber Daniel hatte stets betont, dass ihm schon seine bloße Anwesenheit Mut machte. Sie durften bei der Arbeit in der Tischlerei über nichts sprechen, außer der Geige. Den Großteil der Arbeiten am Instrument hatte der Geigenbauer selbst übernommen, der Musiker war bloß sein Gehilfe gewesen, hatte den feinen Pinsel in den mit Alkohol gefüllten Topf getaucht, ihn mit einem Lappen gereinigt, wann immer Daniel ihn darum bat, oder Wasser erhitzt, um den Leim abzutupfen, kleine Handgriffe, die ihn mit Befriedigung erfüllten.
Er hatte auf die Auswahl des Geigenbauers vertraut, als es darum ging, sich für einen Lack auf Ölbasis zu entscheiden, dessen Zutaten es auf einer winzigen Waage abzuwiegen galt, die Daniel zuvor vermengt hatte: Aloe, Sandarak, venezianisches Terpentin, die färbende Substanz – eine auf kleiner Flamme hergestellte Mischung, die er langsam auf das dünne Tuch goss, das ihm als Filter diente. Während Daniel den verschiedenen Teilen des Instruments noch den letzten Schliff gab, hatten sie so gemeinsam unendlich viele Proben vorgenommen! Davon zeugten später all die Fichten- und Ahornhölzer, die sie beide, sobald sie trocken waren, prüften und leicht an ihnen schabten, bis ihnen durch die Erfahrung des Geigenbauers, und nicht die des Musikers, die Auswahl der geeigneten, von winzigen Details abhängigen Mischung gelungen war, von deren genauer Zusammensetzung Bronislaw nichts verstand. Zuletzt hatte er ihm geholfen, die Saiten aufzuziehen, und ihren Klang ausprobiert.
Er sah seinen Freund an und stellte fest, dass dieser, nachdem die Euphorie vorüber war, müder wirkte als sonst: »Lass dich bitte jetzt nicht gehen!« Es war höchste Zeit, dass er sich ausruhte, denn er hatte dunkle Ringe unter den Augen und war extrem blass. Bronislaw würde versuchen, ihm ein paar Essensreste aus der Küche mitzubringen, obwohl sie jetzt streng beaufsichtigt wurden.
An diesem Abend verabschiedeten sie sich trotz allem zufrieden, und Daniel würde hoffentlich die Nacht durchschlafen können, nachdem ihn die Angst wegen der ungewissen Frist nicht länger quälte und er sich wenigstens sicher sein konnte, nicht Raschers eiskalten Fesseln ausgeliefert zu werden.
Es lag kein Nebel, und die Spitze eines kleinen Sterns blinkte.
VIII
SO WIE IN DEN WÄLDERN,
RAFFT DIE ERSTE KÄLTE
DES HERBSTES
DIE BLÄTTER HINWEG.
Vergil Äneas,VI – 309
Die Flammen waren erloschen, nur ein wenig Asche war übrig geblieben. Er mochte sie nicht, die Asche der Toten. Er verteilte sie mit dem Schürhaken, und winzige Funken sprühten. Nun, da Ingrid schlief, goss er sich ein Glas kühlen Rheinwein ein. Das Mittagessen zu seinen Ehren, die Verleihung der Ehrenauszeichnung der Stadt, alles war perfekt gewesen. Er hatte bemerkt, dass einige nicht gekommen waren, der eine oder andere kranke Kollege oder Neider, dachte er. Blumen, Festreden, Medaillen … Alles Asche außer der Musik.
Was war das nur für eine großartige Überraschung gewesen! Ingrid und die Freunde hatten ihn nichts ahnen lassen, er war nach wie vor bis ins Innerste gerührt und wollte noch ein wenig in Ruhe daran denken, bevor er zu Bett ging; in der Stille des Hauses, die nur manchmal ein Vogelschrei durchbrach, umgeben vom sanften Plätschern des Sees, das wie eine mit Dämpfer gespielte Geige klang, würde er am nächsten Tag sicher lange schlafen können. Ingrid hatte sich nach dem Bankett bald verabschiedet: »Meine Tochter wird dich heimbringen; ich fahre voraus, um das Haus zu heizen.«
Ein paar Freunde und der Operndirektor hatten ihn umringt und ihn erst am späten Nachmittag gehen lassen. Er war müde gewesen, doch nach der Autofahrt, die er genutzt hatte, die Augen zu schließen, fühlte er sich wieder frisch.
Als er sie aufschlug, glitzerten die Wellen des Sees, das Haus war hell erleuchtet, und er wurde bei seinem Eintreten mit Applaus von einem kleinen Kreis von Musikern begrüßt. Auch ein sehr bekanntes Trio war zugegen: Gerda,Virgili und Climent. An Letzteren konnte er sich erinnern, Climent hatte in ganz jungen Jahren als Schüler einen seiner Kadenz- und Improvisationskurse besucht. Auch die Direktorin des Konservatoriums war gekommen, und eine Frau mit hellen Augen, die er nicht kannte, die ihn aber vage an jemanden erinnerte. Man hatte ihn sofort zu dem für ihn vorgesehenen Platz beim Kamin geführt, gleich neben Climent und Ingrid, die den Finger an ihre Lippen führte.
Dann begann es. Er konnte sich noch an jede Note erinnern, er hätte es auch jetzt sofort zur Gänze zu singen vermocht. In der Nacht zuvor hatte er darüber nachgedacht, wie wenige Komponisten es gab, die heutzutage die Geigen zum Klingen brachten. Die meisten maßen der Melodie und jener alten Verbundenheit zwischen Musikern und Geigenbauern kaum mehr Bedeutung bei. Diese drei aber verstanden es – mein Gott, der erste Satz war ihm unter dem Eindruck der Überraschung und Neuheit wie im Flug vergangen; doch als die Geige den zweiten Satz solo begann und er jeden Ton in sich aufsog und festhielt, tauchte in seinen Gedanken schlagartig die Frage auf, wo er diese Klänge schon einmal gehört hatte … Nein, das Stück war ihm unbekannt, es handelte sich um ein noch unaufgeführtes Werk Climents. Und plötzlich durchfuhr es ihn wie ein Blitz: Diese Unbekannte spielte auf Daniels Geige, auf der Geige aus dem Lager. Ja, das wusste er mit einem Mal ganz genau.
Nach der gelungenen Interpretation des Trio de Mytilene war das Mädchen – so bezeichnete er alle Frauen, die noch nicht alt waren – auf ihn zugegangen:
»Sehen Sie sich die Geige an, erkennen Sie sie wieder? Ich bin Regina, Daniels Tochter.«
Regina streichelte erst die Geige, legte sie dann in seine Hände, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und sagte: »Ich habe das Gefühl, dich schon lange zu kennen.« Er betrachtete das Instrument von oben bis unten genau, berührte es; es war eindeutig die Geige seines Freundes, die nun von den Händen des Mädchens zum Klingen gebracht worden war. Er runzelte die Stirn:
»Die Tochter? Er hat mir nur von einer Nichte erzählt.«
Die anderen Freunde standen etwas abseits, und er sah, wie Ingrid sie in sein Arbeitszimmer führte.
»Ich wollte meine Erinnerungen an damals aus dem Gedächtnis streichen«, sagte er zu Regina, »doch es ist mir nie gelungen.«
Dann brach die Frage aus ihm hervor, die ihn so oft gequält hatte:
»Hat Daniel überlebt?«
Beide unterhielten sich – ohne groß darüber nachzudenken – nicht auf Jiddisch, das die Frau nie gelernt hatte, sondern auf Polnisch. Der Geigenbauer hatte überlebt, erzählte Regina sanft, doch war er sehr jung gestorben, als sie erst siebzehn war. Und sie war tatsächlich seine Tochter, denn er und Eva hatten sie nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus adoptiert. Sie hatte damals schon Geige gespielt, fügte sie hinzu, weil Rudi, ein Verwandter und ebenfalls Musiker, ihr bereits mit fünf Jahren die Grundkenntnisse beigebracht hatte.