Er war glücklich, die Tochter Daniels jetzt im hohen Alter kennenzulernen. Sie war gewiss nie aus Polen hinausgekommen, und er hatte niemals dorthin zurückkehren wollen … Er hatte alle Bindungen, die wenigen, die ihm die Vernichtung gelassen hatte, abgebrochen.
»Das kann ich gut verstehen«, sagte das Mädchen, als er es ihr erklärte, »Eva wollte auch nie über diese Zeit sprechen; sie war immer unterwegs, trank ein bisschen zu viel, ließ nie Erinnerungen aufkommen. Mit zwölf Jahren habe ich von meinem Vater erfahren, dass sie in Auschwitz auf unmenschliche Weise sterilisiert worden war und noch immer häufig an Unterleibsschmerzen litt.« Daniel hingegen hatte Regina, im Gegensatz zu seiner Frau, wieder und wieder an seinen Erinnerungen teilhaben lassen, vielleicht weil seine Schatten dort stets von einem Hoffnungsschimmer begleitet gewesen waren: Es war ihm gelungen, die Geige fertigzubauen.
Mit der Stimme des Mädchens erzählt, schmerzten Bronislaw die alten Wunden nicht mehr. Als Daniel nach der Befreiung aus dem Lager ins Krankenhaus gebracht worden war, konnten die Ärzte – wie ihr Daniel berichtet hatte – nicht fassen, dass er es geschafft hatte zu überleben. Auch danach hatte es monatelang schlecht um ihn gestanden, er hatte lange zwischen Leben und Tod geschwebt, als stünde er an einer Wegscheide. Die anderen beiden Musiker, Bronislaws Partner, waren bereits im ersten Winter nach der Abfahrt des Schwedischen Transports gestorben. Eines Tages jedoch war der Wendepunkt gekommen, und Daniel hatte sich für das Leben entschieden. Er hatte Regina von dem Besuch seines alten Kameraden, des Mechanikers, in allen Einzelheiten erzählt, es war, als ob sie selbst dabei gewesen wäre:
»Sein Kamerad ist im Krankenhaus aufgetaucht, hat sich an Vaters Bett gesetzt und ihm triumphierend die Geige gezeigt: Es ist deine, hatte er gesagt, ich habe sie für dich zurückgekauft.«
Freund, der bald darauf in die Vereinigten Staaten emigrierte, hatte sie tatsächlich bei der Versteigerung der Besitztümer des Exkommandanten erworben, kurz nachdem das Schwein verurteilt und gehängt worden war. Rascher, der Schlächter, hatte sich das Leben genommen, bevor sie ihn an den Galgen bringen konnten. Es war die Geige und keine andere, Daniel musste die Buchstaben nicht lesen, um sicher zu sein, denn er hatte die exakte Form im Kopf, genauso wie an jenem Tag, als er begonnen hatte, das Material auszuwählen, um sie inmitten von Schrecken und Elend zu bauen. Ausgehungert, manchmal wie gelähmt von Schlägen, voll Zorn und Schmerz, hatte er im Grunde seines Herzens immer die Hoffnung gehabt – versicherte er seiner Tochter -, dass sein Instrument nicht für immer im Besitz des Feindes bleiben würde. Eines nicht mehr allzu fernen Tages würde jemand es ihm wegnehmen, und die Geige würde weiterleben, selbst wenn er nicht überlebte. »Weißt du«, hatte er zu Regina gesagt, »als Freund sie mir gebracht hat, hörte ich wieder den Satz: Beruf?
Geigenbauer.«
Die Funken in der Asche waren erloschen, aber ein wenig Wärme blieb noch. Wer konnte schon sagen, ob Regina und er sich je wiedersehen würden? Regina würde in ihr Land zurückkehren, und er war ihr so dankbar dafür, dass sie ihm Daniel und vielleicht sogar den Frieden zurückgegeben hatte.Wie sehr hatte es ihn immer gequält, dass er Daniel im Lager hatte zurücklassen müssen, dass er keine Möglichkeit gehabt hatte, auch nur irgendetwas dagegen zu tun … Die Hand, die ihm Adieu gewunken hatte, glich einer Flamme, die seine Brust verbrannte.
Morgen würde er den Violinpart des Trio de Mytilene spielen; Climent hatte ihm die Partitur geschenkt, in diesem Augenblick hätte er sie jedoch, wenn er wollte, auswendig spielen können. Heute Nacht würde der Alptraum nicht mehr wiederkehren, der ihn immer wieder ins Dreiflüsselager zurückversetzt hatte.
Nein, Daniel, es stimmt nicht, dass die Musik Bestien zu zähmen vermag, letztlich ist aber alles Gesang.