Sicherlich waren sie auf dem Weg ins Haus des Kommandanten, er hatte sie wohl zur Feier mit kammermusikalischer Umrahmung eingeladen. Das Monster liebte gute Musik und guten Wein, spielte selbst manchmal Geige, und das gar nicht übel, die Musiker sagten, er hätte eine gute Intonation, wenn auch sein Spiel kühl klang. Das Fest schien sich in die Länge zu ziehen, es war anzunehmen, dass hübsche Mädchen daran teilnahmen.
Am Abend, als Daniel gerade damit beschäftigt war, einen Fensterrahmen fertig abzuschleifen, spürte er plötzlich eine schwere Hand auf seiner Schulter:
»Marsch, ins Haus des Sturmbannführers!«
Besorgt eilte er, so schnell er konnte, dorthin. Was mochte dieser von ihm wollen? Offenbar nur eine Kleinigkeit, denn ein Adjutant zeigte ihm mürrisch einen geringfügigen Schaden an einer der Türen, den er ohne Schwierigkeiten reparierte. Aus der Ferne hörte er die großartige Musik des Trios. Und plötzlich alarmierende Schreie des Kommandanten. Was für eine unerwartete Anwandlung von Mut brachte ihn dazu, den Salon zu betreten? Das viele Licht, der Geruch nach gutem Essen, die Furcht und der Tabakqualm verursachten ihm Schwindelgefühle. Er stockte einen Augenblick, dann erfasste er rasch die Lage: die Geige, das schreckensbleiche Gesicht Bronislaws, ein Musiker, den er sehr gut kannte und der früher ein angesehener junger Solist gewesen war, Sauckels drohend erhobener Zeigefinger, die schadenfrohe Grimasse Raschers. Dennoch wich er nicht zurück. Nein, er würde ihnen kein grausames Vergnügen gönnen. Er stand stramm, salutierte und sagte mit dünner Stimme:
»Es ist nicht seine Schuld. Die Geige hat einen Riss in der Decke. Ich kann sie reparieren.«
Der Kommandant blickte ihn verblüfft an, schien aber über die Möglichkeit erfreut, dass das Instrument wieder hergerichtet werden könne. Ein Gast, den er nie zuvor gesehen hatte, fragte ihn mit gütigem Blick:
»Du kannst das also in Ordnung bringen, sagst du? Dann hat er nicht schrill gespielt, um unsere Ohren zu beleidigen.«
Daniel nahm die Geige aus den Händen des eingeschüchterten Bronislaw, so als würde er nach einer Rose greifen, zeigte dem Gast den kleinen Riss und vergaß dabei ganz, dass er sich im Haus des Feindes befand. Er sprach über seinen Beruf auf Jiddisch mit einem Selbstbewusstsein, das ihm über lange Zeit, seit sie ihn zu einem gefangenen Untermenschen gemacht hatten, abhandengekommen war. Dann wich er ein paar Schritte zurück. Das Gespräch zwischen dem Gast mit den gütigen Augen, dem Kommandanten und Rascher verlief nun leise und zu schnell und lebhaft für ihn. Der andere Arzt und die Mädchen sagten nichts. Er hatte die dunkle Ahnung, dass es in diesem angeregten Gedankenaustausch um ihn und den beschimpften Musiker ging. Eines der Mädchen füllte die feinen Kristallgläser mit Wein, und schließlich rief Sauckel einen Adjutanten herbei, sprach mit ihm, während er auf Daniel deutete, und kritzelte ein paar Worte auf ein Stück Papier. Er will sich nicht dazu herablassen, mit mir zu reden, dachte der Geigenbauer, aber er hat bereits eine Entscheidung getroffen und wird mich gewiss wieder bestrafen.
Der SS-Mann packte ihn rücksichtslos, öffnete die Tür, und Daniel stieg die Stufen hinunter, noch bevor er von ihm hinuntergestoßen werden konnte. Wieder ertönten heitere Stimmen und Gelächter; die Musiker waren noch nicht herausgekommen. Er hatte aber mit einem verstohlenen Blick bemerkt, dass der Gesichtsausdruck des gefürchteten Arztes Enttäuschung verriet, und wertete dies als gutes Zeichen.
»Du hast einen schweren Fehler begangen, Dreckskerl«, sagte der SS-Mann, als sie unten angelangt waren. »Hast den Salon betreten und mit dem Herrn Sturmbannführer gesprochen, ohne um Erlaubnis zu fragen.«
Er machte eine Pause, so als wollte er Daniel Zeit geben, den Ernst seiner Lage zu erfassen: »Du hast es nur seiner Milde zu verdanken, dass man dich nicht bestraft, allerdings unter einer Bedingung: Du musst ihm morgen früh die reparierte Geige abliefern.«
Erst jetzt bemerkte Daniel, dass der SS-Mann das Instrument mitgenommen hatte.
»Und wie soll ich das machen?«
»Schweig und hör mir zu, blöder Hund! Ab in die Werkstatt, du hast die ganze Nacht Zeit, daran zu arbeiten. Wenn du sie morgen nicht fertig hast, und zwar zu seiner Zufriedenheit, verschärfter Arrest mit Peitschenhieben vorher und nachher. Du fällst nämlich schon zum zweiten Mal auf.«
Er schnaufte, als ob ihn diese lange Erklärung angestrengt hätte – Worte waren nicht üblich, die Strafen hagelten normalerweise ohne großes Wenn und Aber. Gut, dachte Daniel, als er sah, dass er ihn geradewegs zur Werkstatt brachte, ich werde durchhalten und trotz des quälenden Hungers auf das Abendessen verzichten müssen. Er hatte noch von frühmorgens ein Stückchen Brotrinde in der Tasche versteckt – das tat er manchmal, um den Nachmittag besser überbrücken zu können. Der SS-Mann trug noch immer die Geige in der Hand und zeigte das Papier einem schweigsamen und übelgelaunten Aufseher, dessen Laune noch schlechter wurde, als er kommentarlos die Notiz las. Man schaffte ihn hinein, übergab ihm die Geige, und einmal drinnen, nur mehr zu zweit, setzte sich der Aufseher über das Verbot hinweg, zündete sich eine Zigarette an und blies Daniel den Rauch ins Gesicht. Als dieser husten musste, war der Aufseher endlich zufrieden, setzte sich auf einen Stuhl und überwachte gelangweilt die Arbeit des Geigenbauers. Bald hörte er zu rauchen auf und nickte ein.
Der Zigarettenstummel lag auf dem Boden, aber Daniel wagte es nicht, sich danach zu bücken. Nichts war zu hören, nur das Schnarchen des Kapos, eines jener oft so grausamen Mithäftlinge mit grünem Winkel auf der Kleidung, und vereinzelte nächtliche Vogelschreie, die aus der Ferne, vom großen Fluss herüberkamen – von draußen, wo Bäume wuchsen und es auch andere Farben gab als Grau und Weiß. Er kannte den ursprünglichen Namen des großen Flusses. Ein Barackenkamerad, ein als Sozialist inhaftierter Professor aus Krakau, der einem schlimmeren Los entgangen war, weil er in den Listen als Bäcker geführt wurde – er war der Sohn eines Bäckers und verstand es, Teig zu kneten und in den Ofen zu schieben -, hatte ihm jedoch einen ungewöhnlicheren Namen gegeben: Acheron.
Er konzentrierte sich wieder auf die Geige. Nein, er war nicht zu optimistisch gewesen, er hatte die Situation richtig eingeschätzt: Der Riss war nicht tief, die Ränder ließen sich mit ein wenig Druck zusammenfügen, sie waren nicht ausgesplittert, gepriesen sei Jahwe. Dann sah er sich um, ob ihm irgendeiner der kleinen Keile, die sie bei der Tischlerarbeit verwendeten, nützlich sein konnte. Glücklicherweise hielten sie die Werkzeuge immer in Ordnung. Er fand zwei maßgerechte, glatte Stücke, die er nicht abschleifen musste. Knochenleim gab es keinen, wohl aber ziemlich guten Fischleim, den sie für die Feinarbeiten im Pavillon des Tyrannen zurückbehalten hatten. Er zündete den kleinen Kocher an, erhitzte den Leim vorsichtig und achtete darauf, dass er nicht zu dick wurde.
Er war wieder er selbst, keine Nummer, keine Zielscheibe des Spotts: Er war Daniel, von Beruf Geigenbauer. Eine Zeit lang dachte er an nichts, nur an seine Arbeit, die sein ganzer Stolz war. Er hatte sogar den Hunger vergessen, und seine Augen glänzten vor Anspannung und Hingabe. Mit geschickten Fingern bestrich er vorsichtig nach und nach den Rand des Risses auf beiden Seiten und massierte den Leim mit kreisenden Bewegungen in die Decke ein. Er prüfte das Ergebnis mit dem Blick eines Kenners – er war ja sozusagen mit Geigen aufgewachsen – und befand es für gut. Die Maserung des Holzes fügte sich ineinander, der kleine Riss würde sich tadellos verschließen. Für eine gewisse Zeit jedenfalls. Er suchte nach den Zwingen, setzte zwei Keile darunter, achtete darauf, dass sie nicht festklebten, und schraubte sie dann mit dem richtigen Druck an. Er wischte sich den Schweiß ab und dachte nach.