Morgen, sagte er sich, morgen.
Das undeutliche Gemurmel um ihn herum wiegte ihn in den Schlaf. Es gab nichts – außer der Zeit, außer dem Lebensfluss -, das nicht warten konnte. Er befand sich im Traum in einer riesigen, kalten, verqualmten Wartehalle. Endlos lange Züge fuhren an den Bahnsteigen vorbei, man sah sie nur zur Hälfte durch die Fensterscheiben, Güterzüge, Viehwaggons, und sie hielten nicht an. Dann gingen die Türen auf, Bekannte Daniels wurden auf den Bahnsteig getrieben, er aber verharrte reglos auf der gusseisernen Bank. Von der Decke des Wartesaals hingen Kadaver, hingen Geigen. Ein Zug blieb stehen, ein Bahnhofsvorsteher mit Militärmütze, der den gleichen Blick hatte wie der Gast mit den gütigen Augen, schob ihn jedoch zur Seite:
»Du nicht«, sagte er. »Das ist nicht dein Zug. Du musst die Geige fertigbauen.«
Ein Aufseher kam näher und schwang die Peitsche. Daniel wollte fliehen, hob ein Bein, aber er konnte nicht laufen, er öffnete den Mund, konnte aber keinen Ton hervorbringen. Als er ihn noch weiter aufriss, löste sich ein Schrei.
»Ruhig, ich bin ja da, du hast nur geträumt.«
»Es war richtig von dir« – Freund aß seine Morgenration Brot und sprach mit vollem Mund -, »dass du gestern Abend die Nachrichten nicht hören wolltest. Du warst zutiefst erschöpft, und sie hätten dir nur den Schlaf geraubt.«
»Jetzt geht es mir aber besser, du kannst sie mir also erzählen.«
An diesem frühen Morgen ging der Appell rasch vorbei, denn es gab keine Zwischenfälle; es war viertel sieben. Also setzten sich beide in der Dunkelheit auf einen Stein, damit der Geigenbauer die grausamen Tatsachen erfahren konnte. Er war bloß durch einen merkwürdigen Zufall davongekommen, vielleicht weil Gott es so wollte, vielleicht wegen seiner dickköpfigen Entschlossenheit, die Geige zu reparieren. Rascher hatte sicherlich deshalb ein so enttäuschtes Gesicht gemacht, denn der Handwerker wäre für ihn, wegen seiner Jugend und seiner noch nicht völlig ruinierten Gesundheit, eine gute Beute gewesen. Vier junge Männer hatten sie für die Versuche dieses Scheusals weggeschafft, und einer von ihnen war aus seiner Baracke.
»Du hast gestern nicht einmal bemerkt, dass einer von uns fehlt.«
»Und was haben sie mit ihnen vor?«
Der Kamerad hatte, da er in der Reparaturwerkstatt des Fahrzeugparks arbeitete, Informationen aus verlässlicher Quelle; bei der Arbeit kam ihm allerhand zu Ohren, und der Fahrer eines Obersturmführers hatte einem anderen ohne Umschweife von den Versuchen Raschers erzählt.
Zum Glück habe ich mich hingesetzt, dachte Daniel angesichts des Grauens, das ihm die Glieder hochkroch wie eine Schlange aus dem Morast. Durfte das wahr sein? War denn so eine Schandtat möglich? Während er den Stimmriss verleimt und die Holzmaserungen der Geige genau aufeinandergepresst hatte – mutmaßte er und musste sich den Mund zuhalten, um sich nicht zu übergeben, um nicht in Beschimpfungen auszubrechen -, tauchten diese Dreckskerle die abtransportierten Häftlinge in eine mit eiskaltem Wasser gefüllte Badewanne.
»Bis vier Grad«, präzisierte Freund, »sie gehen sehr methodisch vor. Sie lassen sie darin, bis sie das Bewusstsein verlieren.«
»Und warum tun sie das, aus welchem Grund?« »Die Schweine sagen, sie wollen die Untersuchungsergebnisse für die Rettung deutscher Fallschirmjäger anwenden, die aus dem Baltischen Meer geborgen werden, aber ich glaube das ebenso wenig wie irgendein anderer Häftling in der Werkstatt … Nicht einmal die Schweinehunde selbst glauben das. Ich bin sicher, sie tun es einfach nur, um zu quälen, diese verdammten Scheißkerle. Es bereitet ihnen Lust, Menschen zu foltern, das kannst du mir glauben.«
»Und erfrieren die dann nicht?«
»Einige schon, aber sie sagen, das sei ein zu vernachlässigender Prozentsatz. Und weißt du, wie sie sie wiederbeleben? Sie legen sie zwischen zwei nackte Frauen, Huren oder Lagerinsassinnen, damit diese sie wieder aufwärmen. Die Drecksäcke nennen das ›Aufwärmungsversuche mit animalischer Wärme‹. Sie schauen, ob sie wieder zu sich kommen, beobachten alles und messen die Körpertemperatur. Erst dann breiten sie eine Decke über die drei aus, diese elenden Saukerle. Ein Kamerad, der vorher in einem anderen Lager war, hat mir erzählt, wie die Schweine darüber geredet und gelacht haben. Verrecken sollen sie doch endlich – alle! Aber los, gehen wir, es ist höchste Zeit. Komm schon, steh auf, he, reiß dich zusammen!«
Ihren Kameraden sahen sie nicht wieder.
Nie mehr.
IV
WER WAGT ES ZU LACHEN
IN DEN BLÜHENDEN TÄLERN?
ZÜGELT DIE FEURIGEN PFERDE!
· · ·
AUF DEN STUFEN DES SCHWEIGENS
TÖNEN RUFE DER MUTTER HERAUF,
UND DAS GOLDENE TIER
DER MORGENRÖTE VERLANGT
NACH DEM ZUCKER
IHRER KNOCHEN.
SIE JEDOCH VERHARREN
DORT UNTEN.
Agustí Bartra, L‘arbre de foc
Bericht über Sicherungsmaßnahmen im Konzentrationslager Auschwitz, 1944
Das Lager III umfaßt alle in Oberschlesien bestehenden Außenlager bei Industriebetrieben, die räumlich weit von einander entfernt liegen. Diese Arbeitslager sind ebenfalls mit der üblichen Drahtsicherung umgeben und haben gleichfalls Postentürme.
-----------
Für die Außenlager des Lagers III stehen 650 Wachmannschaften außerdem zur Verfügung.
Im A=Falle wird als weitere Sicherung der äußere Ring gebildet, der von der Wehrmacht besetzt wird. In den äußeren Ring ist auch das Arbeitslager bei der I.G. Farbenindustrie AG mit zur Zeit 7000 Häftlingen und das gesamte Werk der I.G. Farbenindustrie AG, in dem außer unseren Häftlingen rund 15 000 Menschen beschäftigt werden, einbezogen.
Am Vortag hatte er die zwei Teile, aus denen die Decke bestehen würde, gut verleimt. Die Maserungen des schönen ungarischen Fichtenholzes fügten sich makellos ineinander. Daniel hatte die Ränder vorsichtig erhitzt, damit der Leim in alle Poren eindringen konnte. Jetzt war einer der Arbeitsschritte an der Reihe, der ihm, obwohl er zu den schwierigsten zählte, am besten gefieclass="underline" nämlich die Vorgabe der exakten Form, die das Instrument erhalten sollte. Er hatte eine klare Vorstellung davon, wie der Corpus auszusehen habe, und er vertraute darauf, dass ihm seine langjährige Erfahrung dabei helfen würde, diese – allen Hindernissen zum Trotz – umzusetzen.
Bevor er damit begann, die Hölzer zu bearbeiten, roch er an ihnen. Nach einer guten Weile fühlte er sich erschöpft, konnte aber zufrieden auf das Ergebnis blicken. Die Linienführung war genau, und trotz seines schwachen Zustands zitterten seine Hände nicht, als sie die Schablone nachzeichneten: Die Umrisse waren sauber, präzis. Vermutlich hatte er allerdings mehr Zeit als nötig dafür aufgewendet. Schließlich griff er nach der Laubsäge, legte das Stück so auf die Werkbank, dass es nur zum Teil auflag, murmelte fast instinktiv ein Gebet und begann zu sägen. Für Anfänger stellte es im Allgemeinen eine große Schwierigkeit dar, die kleine Säge genau anzusetzen, ohne die vorgezeichnete Linie zu berühren, einen Millimeter auszusparen, den es danach abzuschleifen galt, damit die Ränder so glatt wurden wie die eines mit der Schneidemaschine geschnittenen Papiers. Für Daniel war es nicht schwierig. Er dachte an nichts anderes mehr als an diese exakt geschwungene Linie, jene schöne Form, die dem Torso einer Frau glich. Seine gesamte Energie, alle Kraft, die ihm noch blieb, konzentrierte sich auf seine rechte Hand – er fand seine ursprüngliche Geschicklichkeit wieder.