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Die erste Hälfte war geschafft; seine Kraftlosigkeit hatte ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben. Er wischte ihn sorgfältig ab, damit er nicht seinen Blick verschleierte. Der zweite Arbeitsgang ging ihm leichter von der Hand, und als die Umrisse des Holzes mehr und mehr dem Modell glichen und der idealen Form entsprachen, die er im Kopf hatte, durchströmte ihn gar ein Gefühl von körperlichem Wohlbehagen, das er schon seit Monaten nicht mehr empfunden hatte. Hände können sich erinnern, davon war er überzeugt, und auch die Musiker, die ihm Geigen oder Celli zur Reparatur anvertraut oder ihn mit dem Bau eines neuen Instruments beauftragt hatten, sprachen immer wieder davon. Er hatte es genossen, sich mit ihnen zu unterhalten und Einzelheiten aus ihrem Künstlerberuf zu erfahren. Auch seine Geigenbauerfinger erinnerten sich, wie sie die heiklen Arbeiten, die seine Kunst erforderte, ausführen mussten.

Nein, diesmal schreckte er nicht aus dem Schlaf hoch, und man rüttelte ihn auch nicht aus einem Traum wach. Er widmete sich tatsächlich jeden Morgen dem Bau der Geige. Erst wenn die Sirene die Essensausgabe ankündigte, die Zimmerleute und Tischler hastig ihre Arbeit niederlegten und er plötzlich das stechende Hungergefühl im Magen verspürte, wurde ihm bewusst, dass er sich nicht in seiner eigenen Werkstatt befand. Er baute die Geige im Lager, im Auftrag des Kommandanten.

Nachmittags wurden die lagerinternen Werkstätten geschlossen, nur jene der Fahrzeugreparatur nicht: Alle Häftlinge, die noch kräftig genug waren, wurden zur Arbeit in den Rüstungsfabriken abgezogen, um Flugzeugteile und Panzerzubehör anzufertigen; ständig gab es Bombardements der Alliierten, weshalb ein Teil der Häftlinge an der Errichtung unterirdischer Stollen für eine neue Waffenfabrik schuften musste. Daniel schickte man in eine Zweigstelle der I.G. Farben, eine von vielen Fabriken, die die Arbeitskraft der Sklaven ausbeuteten. Sein Bekannter, der Mechaniker, konnte hingegen den ganzen Tag in der Werkstatt bleiben; er war bei den Befehlshabern und Chauffeuren wegen seiner außerordentlichen Geschicklichkeit und Umsicht recht beliebt.

Als Daniel seinen Arbeitskollegen folgte und die Baracke verließ, hatte er wie immer denselben Eindruck: Sobald er aus der Werkstatt trat, wo er das Gefühl zu leben wiedergefunden hatte, schien es ihm, als würde er sich bei vollem Bewusstsein in einen grenzenlosen Alptraum begeben, in die schlüpfrigen Fangarme eines Ungeheuers. Statt ihn nachts heimzusuchen, begann der Alptraum nun schon mittags, das schwache seelische Gleichgewicht löste sich schlagartig auf, wieder und wieder schnürte ein Knoten seine Brust zusammen, und »seine Geige« kam ihm so absurd vor wie ein Rosenstrauch in einem Schweinestall. Eine Geige im Dreiflüsselager, eine Geige, um zu überleben.Vielleicht.

Er hatte sich nach und nach daran gewöhnt, sich kaum über irgendwelche unerwarteten Vorkommnisse zu wundern, denn sie waren fast immer abscheulich. Alles konnte geschehen: dass sie in der Baracke noch enger zusammenrücken mussten, weil für weitere Häftlinge noch ein paar Pritschen hineingezwängt wurden, dass man ihnen wegen angeblich schlechter Arbeitsleistung am Vortag das Mittagessen strich oder dass man ihnen zusätzlich zur Rübensuppe eine rohe Möhre gab, auf Anordnung des neuen Lagerarztes – Rascher war nämlich befördert worden. Dass man sie, meist dienstags oder freitags früh am Morgen, auf dem gleichen Appellplatz, dort, wo Daniel ausgepeitscht worden war, antreten und strammstehen ließ, um steif vor Kälte und Entsetzen der Hinrichtung eines »subversiven Häftlings« beizuwohnen, eines als Kommunisten oder Spion angeklagten Mithäftlings.

Obwohl er sich mittlerweile an all diese permanenten Widersprüchlichkeiten gewöhnt hatte, überraschte es ihn, als er eines Tages den Befehl erhielt, eine Geige zu bauen – so vollkommen wie eine Stradivari, hatte der Untersturmführer betont. Und noch mehr hatte es ihn gewundert, als man ihm eine Menge Werkzeug, Hölzer und weiteres Material zur Verfügung stellte, damit er auswählen konnte, was er davon benötigte. Er vermutete, dass es sich um beschlagnahmtes Gut aus der Werkstatt eines jüdischen Geigenbauers handelte, eines deutschen vielleicht, wahrscheinlich schon tot, ermordet. Aus seiner eigenen Krakauer Werkstatt jedenfalls konnte er kein Stück wiedererkennen.

Es hatte sich, wie man ihm übermittelte, um einen direkten Befehl des Sturmbannführers gehandelt, doch war ihm, als er es unter strenger Einhaltung der Vorschriften gewagt hatte, das Wort an den Adjutanten zu richten, die Erlaubnis verweigert worden, irgendwelche Fragen zu stellen: Nachdem er salutiert und strammgestanden hatte, sagte er Folgendes:

»Nummer 389 bittet respektvoll um Erlaubnis, eine Frage stellen zu dürfen.«

»Abgelehnt.«

Immerhin wurde die harsche Weigerung nicht von Schlägen begleitet. Der ausgestreckte Arm wies nur auf den Eingang zur Tischlerei, und Daniel begab sich unverzüglich dort hinein. Ein Teil der Tischlerei würde ihm nun als Werkstatt zur Verfügung stehen.

Er arbeitete stets schweigend. Aus nächster Nähe wurde er vom ukrainischen Kapo beaufsichtigt. Irgendetwas zu fragen riskierte er nicht, er vermied es sogar, sich selbst weitere Fragen zu stellen oder über seine Arbeit mit den Kameraden zu sprechen, um sich nicht unbeliebt zu machen. Den Kommandanten hatte er in der Werkstatt noch nicht zu Gesicht bekommen. Vielleicht konnte er zu einem späteren Zeitpunkt herausfinden, was genau sie von ihm erwarteten.

In den ersten Tagen war die Arbeit schleppend vorangegangen, weil er zunächst das beschlagnahmte Material, das mit Holzspänen vermischt war, ordnen und aussortieren musste. Und wohl auch, weil er an seine eigenen Hohleisen, Hobel und Raspeln von früher gewöhnt war, die sich der Form seiner Hände angepasst hatten, als wären sie mit ihnen zusammengewachsen. Er dachte an all jene Werkzeuge, die in der Werkstatt im Erdgeschoss seines Hauses so sauber vor sich hingeglänzt hatten. Wo war die Ruhe geblieben, die verlässliche Ordnung seiner Werkstatt, die an der Decke aufgehängten Geigen, die vertraute Umgebung, die Stimme seiner Mutter, die oben bei der Hausarbeit vor sich hinträllerte – die Mutter, die an Tuberkulose und Hunger im Ghetto gestorben war?

Er hatte nicht einmal in Erfahrung bringen können, wie viel Zeit sie ihm zugestanden, um die Geige fertigzustellen, ohne dass er eine Strafe befürchten musste. An den Vormittagen ließen sie ihn wenigstens weitgehend in Ruhe. Der Aufseher schlug ihn nicht mehr, Rascher war nicht zurückgekehrt, eine weitere Internierung in der Zelle war ihm erspart geblieben. Eines Morgens jedoch konnte er einer erneuten Züchtigung nicht entgehen. Sie galt allen in seiner Baracke, da zwei versteckte Äpfel gefunden worden waren. Danach hatte man sie aber wieder an die Arbeit geschickt.Von nun an widmete er sich mit mehr Zuversicht seiner Tätigkeit, und sein Tag schien wie mit der Klinge eines Schwertes in zwei Teile gespalten. Morgens, wenn der Appell ohne wesentlichen »Zwischenfall« vorübergegangen war, wenn die Hunde keinen Häftling wegen einer unschuldigen, für sie verdächtigen Bewegung ins Bein gebissen hatten, wenn es nur die lauten Beschimpfungen hagelte, die an der Tagesordnung waren, fiel es ihm nicht schwer, sich gleich in die Arbeit zu vertiefen und all den Hass und Nebel, der sie umgab, in den hintersten Winkel seines Gehirns zu drängen. Manchmal kam ihm ein Bruchstück einer Melodie oder ein Fragment der alten Gebete in den Sinn, für gewöhnlich verborgen in den unergründlichen Tiefen seiner Erinnerungen, doch die Worte erstarben bald auf seinen Lippen: Jewarechecha Adonai …