»Wer erhält den Befehl über diese neue Flotte?«
»Admiral Bloch.«
Die Antwort kam ohne zu zögern, ohne einen Versuch, sich zu drücken. Wieso?
»Obwohl dem Großen Rat bekannt sein muss, dass Bloch einen Staatsstreich für den Fall geplant hatte, dass sein Angriff auf die Heimatwelt der Syndiks bei Prime erfolgreich verlaufen wäre?«
»Ja, obwohl ihm das bekannt ist.« Sakai schaute wieder in die Ferne, als sehe er dort etwas, das Geary verborgen blieb. »Ich frage mich, warum ich es immer noch versuche. Aber dann denke ich an meine Kinder und an deren Kinder. Was soll aus ihnen werden, wenn die Allianz zerfällt? Ich denke an meine Vorfahren. Wenn der Tag kommt, an dem ich vor sie trete, was soll ich dann sagen, was ich mit dem Leben angefangen habe, das mir gewährt wurde. Wie werden sie über mich und über mein Handeln urteilen?« Er zuckte mit den Schultern. »Mein Wunsch ist, dass ich ihnen gegenübertreten und ihnen sagen kann, dass ich nicht gekniffen habe. Vielleicht sind alle meine Bemühungen zum Scheitern verurteilt, dann aber wenigstens nicht aus dem Grund, dass ich aufgegeben habe.«
»Sie glauben eigentlich nicht, dass es hoffnungslos ist«, mutmaßte Geary.
Senator Sakai stand auf, seine Miene verriet wieder nichts von dem, was in ihm vorging. »Sagen wir lieber, Admiral, ich habe Angst davor, zuzugeben, dass es hoffnungslos ist.«
Nachdem Sakai gegangen war, kehrte Gearys Blick zurück zu der Datei, die er zuletzt zum Thema Rückkehr ins Sol-Sternensystem geöffnet hatte.
Ich bin also ein Anachronismus? Meinetwegen. Traditionen halten uns zusammen, aber unter dem Druck des Krieges sind viele von diesen Traditionen in Vergessenheit geraten. Vielleicht ist es an der Zeit, dass dieser anachronistische Admiral noch ein paar Anachronismen mehr wiederauferstehen lässt.
»Wir sind im Begriff, die Linie zu überqueren«, sagte Geary.
Tanya, die in sein Quartier gerufen worden war, sah ihn verständnislos an. »Welche Linie?«
»Die Linie.«
»Ach, die Linie. Hm, jetzt bin ich immer noch so schlau wie zuvor.«
»Die Grenze des Sol-Sternensystems«, erklärte er geduldig.
»Sternensysteme haben keine Grenzen.« Sie tippte etwas auf dem Display ein, dann wartete sie auf die Resultate. »Ach so, Sie meinen die Heliosphäre. Das Gebiet um einen Stern herum, das die Grenzen eines Sternensystems definiert. Davon habe ich noch nie gehört.«
Eine solche Aussage hätte eigentlich erstaunlich sein müssen, kam sie doch von der Befehlshaberin eines Schlachtkreuzers, deren Karriere sie über Hunderte Lichtjahre und in unzählige Sternensysteme geführt hatte. Aber es war keineswegs erstaunlich. »Das liegt daran, dass die Heliosphäre eines Sterns weit über jene Region hinausreicht, in der sich Sprungpunkte finden und in der Hypernet-Portale positioniert werden«, erklärte Geary. »Die Heliosphäre eines Sterns reicht bis weit in das Dunkel zwischen den Sternen hinein, in jenes Gebiet, in das die Schiffe der Menschen nie vordringen – oder besser gesagt, in das sie schon lange nicht mehr vordringen.«
»Also gut. Und warum ist das jetzt wichtig?«
»Die Heliosphäre von Sol bestimmt die Grenze des Sol-Sternensystems«, sagte Geary. »Das ist die Region, in der die Sonnenwinde von Sol vorherrschen.«
»Ja«, gab Desjani mit übertriebener Geduld zurück, während sie weiter die Resultate ihrer Abfrage durchlas. »Im Fall von Sol reicht die Heliosphäre ungefähr zwölf Lichtstunden weit hinaus«, zitierte sie. »Oder rund hundert Astronomische Einheiten. Was um alles in der Welt ist denn eine Astronomische Einheit?«
»Ein alte Maßeinheit. So wie ein Parsek.«
»Ein was?«
»Schon gut«, sagte Geary knapp.
»Schön«, erwiderte sie. »Das ist also die Linie, von der Sie geredet haben? Der Rand der Blase, der die Heliosphäre von Sol definiert? Aber das ist ja mitten im Nichts. Niemand entfernt sich im realen Raum so weit von einem Stern. Warum auch? Da gibt es nichts weiter als tote Steine, die ihre Bahnen ziehen.«
»Tanya, es gab einmal eine Zeit, da konnte man nicht einfach ein Hypernet-Portal oder einen Sprungpunkt benutzen, um zu anderen Sternen zu reisen. Die Flüge zu den ersten anderen Sternen, die von unseren Vorfahren besucht wurden, führten über diese Linie. Die musste einst körperlich mit einem Raumschiff überschritten werden, bevor man einen anderen Stern erreichen konnte. Deshalb kam dem eine große Bedeutung zu. Für die Menschheit bedeutete es, den Stern hinter sich zurückzulassen, der uns hervorgebracht hatte, und ins Universum vorzustoßen.«
»Das war unseren Vorfahren wichtig?« Tanya betrachtete das Display über Gearys Schreibtisch mit neu gewonnenem Respekt. »Ja, natürlich war es das. Das war der Punkt, an dem ein Schiff und alle Menschen an Bord Sol endgültig verließen.«
»Ganz genau. Das wurde damals groß gefeiert. Und selbst nachdem wir die Sprungtechnologie entdeckt hatten und die Heliosphäre nicht mehr körperlich durchfliegen mussten, wurde dennoch auf den Schiffen der Linie gedacht, wenn sie sie überquerten. Bei den Heliosphären anderer Sterne war das nicht wichtig, aber bei Sol schon. Es war sehr bedeutsam, wenn man von sich sagen konnte, dass man ein Reisender war.«
»Ein … Reisender?«
»Wenn man diese Linie überquert hat, darf man sich so nennen«, erläuterte Geary. »Das ist die Tradition.«
»Unsere Vorfahren haben das gemacht?«
»Ja.«
Desjani nickte. »Dann sollten wir das auch so handhaben. Wieso können Sie sich daran erinnern? Ich wüsste nicht, dass jemals irgendjemand ein Wort davon gesagt hat.«
»Früher schickte die Flotte alle zehn Jahre ein Schiff zurück nach Sol«, sagte er, »um den Jahrestag zu feiern, an dem die erste interstellare Mission aus dem Orbit der Alten Erde aufbrach. Wir schickten nur alle zehn Jahre ein Schiff hin, weil es zu meiner Zeit noch keine Hypernet-Portale gab und es ein weiter Weg war. Ich bin nie hingereist, aber ich sprach mit Leuten, die an Bord eines dieser Schiffe gewesen waren, und zu der Zeit war die Überquerung dieser Linie noch eine wichtige Angelegenheit.«
»Aber im Krieg konnten wir es uns nicht leisten, ein Schiff zur Alten Erde zu schicken«, sagte Desjani. »Diese frühen Jahre waren von Verzweiflung geprägt. Selbst auf ein einziges Schiff konnten wir nicht für eine so lange Zeit verzichten.«
Geary nickte. »Das nächste Schiff hätte nicht ganz ein Jahr nach dem ersten Angriff der Syndiks zur Alten Erde fliegen sollen, aber dann kam der Krieg dazwischen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie darüber spekuliert wurde, welches Schiff wohl ausgewählt werden würde. Aus heutiger Sicht muss das eigenartig wirken, aber vor der Schlacht bei Grendel drehte sich eines der wichtigsten Gesprächsthemen darum, welches Schiff die Reise unternehmen durfte.«
Tanya sah ihn verdutzt an. »Das war Ihre größte Sorge?«
Mit einem Mal fühlte er sich beschämt. Tanya und alle anderen Crewmitglieder in der Flotte hatten ihre ganze Karriere, ihr ganzes Leben lang nur den Krieg gegen die Syndiks gekannt. Ihre Sorge hatte darum gekreist, ob sie überleben oder sterben würden. Wie soll sie sich ein Universum vorstellen, in dem das wichtigste Thema die Frage ist, welches Schiff einen Ausflug nach Sol unternehmen würde? Wie könnte ich mich jemals Menschen überlegen fühlen, deren Leben von weitaus schwerwiegenderen Ereignissen geprägt wurde als alles, was ich damals mitgemacht habe?
»Ja«, antwortete er schließlich.
»Ich … nehme an, das war damals ziemlich wichtig«, sagte Tanya, aber ihr war anzuhören, dass sie vergeblich nachzuvollziehen versuchte, wie das überhaupt erwähnenswert sein konnte. »Diese Sache mit dem Überqueren der Linie kann ich begreifen«, fügte sie hinzu. »Und auch die Feier anlässlich der ersten Reise zu einem anderen Stern. Das muss wirklich enorm gewesen sein. Damals sind die Menschen tatsächlich mit Unterlicht durch das Dunkel zwischen den Sternen gereist. Als kleines Mädchen habe ich darüber gelesen.« Ihre Augen nahmen einen entrückten Ausdruck an, während sie zu lächeln begann. »Das Schiff zu den Sternen. Ich erinnere mich noch gut daran, weil ich das Buch immer und immer wieder gelesen habe. Es ging um ein Mädchen und einen Jungen an Bord eines Raumschiffs. Sie wurden beide auf dem Schiff geboren, weil es ein Generationenschiff war. Die Reise dauerte so lange, dass die Crew, die die Alte Erde verlassen hatte, unterwegs an Altersschwäche sterben würde. Ihre Kinder lernten, wie man das Schiff bedient und die Reise fortsetzt, und es würden erst deren Kinder sein, die den anderen Stern erreichten.«