»Versteht das wirklich irgendjemand?«, überlegte Charban. »Oder sind wir immer noch Kinder, umgeben von Dingen, die wir gar nicht begreifen können. Dinge, in die wir mal einen Finger drücken, um zu sehen, was dann passiert?«
»Ich weiß es nicht«, meinte Desjani und blickte wieder auf ihr Display, auf dem nichts zu sehen war als die Situation an Bord der Dauntless. »Ich befehlige nur einen Schlachtkreuzer.«
Die erzwungene Isolation während der Reise im Hypernet ebenso wie im Sprungraum ließ einem viel Zeit, um liegengebliebene Arbeit nachzuholen. Geary saß am Tisch in seinem Quartier und betrachtete missmutig die lange Liste noch zu erledigender Posten, während er sich fragte, ob das nun eine gute oder eine schlechte Sache war. Warum wollte ich bloß Admiral werden? Ach, richtig, ich wollte niemals Admiral werden. Ich wollte nur meine Arbeit gut machen und weit genug aufsteigen, um mein eigenes Schiff befehligen zu können. Aber das Kommando über eine ganze Flotte? Eine Flotte, die weitaus größer war als die Allianz-Flotte, wie sie vor dem Krieg existiert hatte? Und dabei für jeden Mann und jede Frau verantwortlich zu sein? Und auch noch für die Tänzer, die jetzt zur Flotte gehören? Nein, das habe ich nie gewollt. Aber ich hab’s bekommen. Die Türglocke zu seinem Quartier wurde betätigt.
Geary versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie erfreut er über diese Störung war, ganz gleich von wem sie ausging. Hastig drehte er sich mit seinem Sessel so um, dass er die Luke sehen konnte, dann tippte er einen Befehl ein, der diese Luke öffnete.
Er hoffte auf Tanya, die sich ein paar Minuten mit ihm gönnen wollte, ohne von der gesamten Crew dabei beobachtet zu werden. Oder Rione, die ihm endlich mehr über ihre mysteriösen Geheimbefehle erzählte. Stattdessen trat der ernst und auch wenig melancholisch dreinblickende Gesandte Charban ein. »Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich, Admiral?«
»Natürlich, kommen Sie rein.«
Der Mann war längst nicht mehr so zögerlich wie zu Beginn dieser Mission. Er war als aufstrebender Politiker an Bord der Dauntless gekommen, als ein General im Ruhestand, den die Sinnlosigkeit der Gewaltanwendung desillusioniert hatte, da er hatte mitansehen müssen, wie die ihm unterstellten Männer und Frauen starben, ohne dass sich an den Verhältnissen etwas änderte. Aber Geary hatte mit der Zeit erkennen müssen, dass Charban kein Dummkopf war, sondern ein abgekämpfter Mann, der zwar zu oft den Tod gesehen hatte, aber immer noch scharfsinnig genug war, um Dinge zu bemerken, die anderen nicht auffielen.
Nach und nach hatte er sich auch als die vorrangige Schnittstelle zwischen der Allianz und den Tänzern herausgebildet, was sogar Rione dazu veranlasst hatte, ihm dabei den Vortritt zu lassen. Dr. Setin hatte sich darüber noch beschwert, bevor die Flotte ins Portal bei Midway geflogen war. »Warum wird einem Amateur der Vorzug gegeben, wenn es um den Kontakt zu dieser fremden Spezies geht?«
»Weil diese fremde Spezies ausdrücklich darum gebeten hat, dass er sich um sie kümmert«, hatte Geary klargemacht. Gewusst hatte er das, weil ihm die Berichte von Setins Kollegin Dr. Shwartz bekannt gewesen waren.
»Er ist ein Amateur. Wir haben uns während unserer gesamten akademischen Karriere auf die Kommunikation und den Kontakt mit nichtmenschlichen Intelligenzen vorbereitet.«
»Ja, Dr. Setin, ich verstehe das. Ich werde mich mit der Angelegenheit beschäftigen und sehen, was getan werden muss.« Dr. Setin hatte sich während ihrer ganzen akademischen Karriere darauf vorbereitet, mit nichtmenschlichen Intelligenzen zu kommunizieren, aber ironischerweise war sie nicht in der Lage, eine klassische menschliche bürokratische Abfuhr zu erkennen, wenn sie damit konfrontiert wurde.
»Kann ich mit Ihnen über die Tänzer reden?«, fragte Charban, während er näher kam.
»Setzen Sie sich. Ich hoffe, Sie bringen mir gute Neuigkeiten.«
Der Gesandte verzog betrübt den Mund, während er Geary gegenüber Platz nahm. »Die Experten sagen mir, ich würde mich irren.«
»Dann haben Sie einen guten Grund für die Annahme, dass Sie im Recht sein könnten«, erwiderte Geary. »Dr. Shwartz hat mir von diesen akademischen Experten erzählt, sie selbst eingeschlossen, die ihre ganze Karriere damit verbracht haben, Theorien über intelligente Aliens zu entwickeln. Und jetzt, da wir solchen Aliens tatsächlich begegnet sind, kommen sie nicht so gut mit der Tatsache zurecht, dass ihre Theorien sich nur so wenig mit der Realität decken. Um was geht es hier speziell?«
»Um unsere Versuche, die Kommunikation mit den Tänzern zu verbessern.« Charbans Gesicht nahm kurz einen aufgebrachten, dann einen sorgenvollen Ausdruck an. »Ich bin mir nicht sicher, dass sie sehr kooperativ sind.«
Diesen Verdacht hegte Geary selbst auch schon seit einigen Wochen, und er war gar nicht erfreut darüber, dass die Tänzer bei ihren menschlichen Kontaktpersonen nicht mit offenen Karten spielen. Es gefiel ihm gar nicht, dass er seine Vermutung nun auch noch bestätigt bekam. »Erläutern Sie das bitte«, sagte er und atmete tief durch.
»Es ist schwer, einen Eindruck zu erklären«, begann Charban. »Es ist ganz und gar nicht wissenschaftlich, wie mir gesagt wurde. Sie wissen, wir machen bei der Verständigung mit den Tänzern nur kleine Fortschritte. Sehr kleine Fortschritte.«
Geary nickte. »Sie sind so völlig anders als wir, da überrascht es nicht, dass die Verständigung nur langsam in Gang kommt. Zwischen unseren Spezies klaffen so riesige Lücken, dass es nicht leicht sein kann, sich auf die Bedeutung von Worten und Konzepten zu einigen. Aber ich habe mich schon gefragt, warum es selbst bei den einfachsten Konzepten nur so langsam vorangeht.«
Charban setzte ein schiefes Lächeln auf. »Sie haben die Berichte unserer Experten gelesen.« Er nickte verstehend. »Das stimmt so alles. Aber …« Nachdenklich hielt er inne. »Mein Eindruck ist der, dass die Tänzer diesen Prozess absichtlich langsam vorantreiben, dass das alles viel länger dauert, als es angesichts ihrer Fähigkeiten notwendig wäre.«
»Können Sie sich erklären, warum das so sein sollte?«
»Sie nehmen mich wirklich ernst? Vielen Dank.«
»Gesandter Charban«, sagte Geary. »Sie haben sich als bemerkenswert gut darin erwiesen, die Denkweise der Tänzer zu erfassen. Sie haben erkannt, wieso die Enigmas solche Angst vor uns haben. Sie haben das Verhalten der Kiks erklären können, lange bevor irgendeiner von uns dahintergekommen war. Sie besitzen Talent. Natürlich nehme ich Sie ernst.«
Diesmal kam Charbans Lächeln von Herzen. »Nochmals danke, Admiral. Die Zeit seit meinem Ausscheiden aus dem Militär ist für mich eine demütigende und frustrierende Erfahrung gewesen. Diplomaten und Politiker wissen so viele Dinge, von denen ich keine Ahnung habe, dafür übersehen sie Dinge, die für mich offensichtlich sind. Unsere Experten für nichtmenschliche Spezies werden von einem Pulk aus hochkarätigen Absolventen begleitet, aber sehr oft laufen sie im Kreis um Antworten herum, anstatt sie zu sehen.«
»Unsere Experten für nichtmenschliche Spezies«, gab Geary ironisch zurück, »haben vor dieser Mission noch nie tatsächlich irgendetwas mit irgendeiner nichtmenschlichen Spezies zu tun gehabt. Wenn es um echte Aliens geht, scheinen Sie ein Gefühl für die richtigen Antworten zu haben.«
»Würden Sie mich für eine Position empfehlen, in der ich mit solchen Aliens zusammenarbeiten kann?«, fragte Charban. »Ich sollte Sie aber wohl besser warnen, dass unsere Experten sehr aufgebracht sind, wenn ein Amateur wie ich den Vorzug für einen solchen Posten erhalten würde.«
»Alle unsere Experten?«
»Nicht Dr. Shwartz.«
»Das überrascht mich nicht. Sie scheint als Einzige akzeptieren zu können, dass Lebenserfahrung manchmal wertvoller sein kann als jeder akademische Abschluss. Aber die Tänzer zu verstehen, scheint mir eine ganz besondere Herausforderung zu sein.«