Einige Tausend waren immer noch genug. Selbst ein paar Hundert oder noch weniger hätten schon genügt. Es gibt so viele Dinge, bei denen wir nichts tun können. Aber wir können Gefangene befreien, die noch immer festgehalten werden, obwohl der Krieg vorbei ist, der ihre Gefangenschaft überhaupt erst begründet hat.
»Danke, Lieutenant«, sagte Geary und ließ sich in seinen Sessel sinken, nachdem Igers Bild verschwunden. Intensiv rieb er sich die Augen.
»Da ist was faul«, hörte er Desjani neben sich sagen.
»Ja, nicht wahr?«
»Tausende Allianz-Gefangene, untergebracht in einem neuen Lager, in einem Sternensystem, das wir zwangsläufig durchqueren müssen.«
Daran war etwas so faul, dass es zum Himmel stank. »Aber was ist daran die Falle?«
»Wollen wir das wirklich herausfinden?«
»Bleibt uns eine andere Wahl?« Er rief Rione. »Madam Gesandte, wir müssen mit dem Senior-CEO der Syndiks in diesem System über ein Gefangenenlager reden.«
Es dauerte Stunden, bis Riones Nachricht die bewohnbare Welt erreichte, auf der sich der Syndik-CEO mutmaßlich aufhielt. Weitere Stunden waren nötig, ehe eine Antwort eintreffen konnte. Geary nutzte diese Zeit, um seine Flotte in Richtung des Sterns und der bewohnbaren Welt fliegen zu lassen.
Unterdessen unternahmen die vier Syndik-Gruppen mehrere Annäherungen an die Formation, um die Flotte der Allianz zu einer Reaktion zu provozieren. Aber Geary ließ das Feuer nicht eröffnen, sondern wartete ab, dass die Syndiks so weit näher kamen, dass sie einem Beschuss nicht mehr hätten entkommen können. Sie kamen jedoch nicht näher, und Geary unternahm seinerseits keinen Versuch, auch nur eine dieser Gruppen zu verfolgen.
Die Pattsituation dauerte somit an. Dass die Syndiks darüber ebenfalls frustriert waren, tröstete ihn kaum.
Die Flotte hatte sich fast vom Rand des Simur-Sternensystems auf den Weg gemacht, von wo aus der Stern selbst rund fünf Lichtstunden entfernt war. Die bewohnbare Welt kreiste in einer Entfernung von sieben Lichtminuten um den Stern, weshalb die geschwungene Flugbahn bis zum Erreichen des Planeten 5,1 Lichtstunden lang war. Geary ließ die Flotte konstant mit einer Geschwindigkeit von 0,1 Licht fliegen, sodass die Reisezeit einundfünfzig Stunden betragen würde. Selbst wenn man sich mit einer Geschwindigkeit von dreißigtausend Kilometern in der Sekunde durchs All bewegte, dauerte es eine Weile, um die Entfernungen innerhalb eines Sternensystems zu bewältigen. Wäre die Flotte gezwungen gewesen, mit genau dieser Geschwindigkeit den Stern anzufliegen, der Simur am nächsten lag, dann hatte es achtunddreißig Jahre gedauert, das 3,8 Lichtjahre entfernte System Padronis zu erreichen.
»Wir haben eine Antwort erhalten«, sagte Rione, deren Bild vor Geary aufgetaucht war. Ihre Stimme lieferte keinen Hinweis auf den Inhalt der Nachricht. »Wollen Sie sie sehen?«
Da er sich auf der Brücke der Dauntless aufhielt, aktivierte er seine Privatsphäre so, dass sie Tanya einbezog und sie beide alles hören und sehen konnten. »Sicher. Stellen Sie sie durch.«
Ein weiteres virtuelles Fenster öffnete sich neben Riones Bild. Geary sah das Gesicht einer sehr ernst dreinblickenden Frau in der Kleidung einer Syndik-CEO. Der Anzug war zwar genauso makellos geschnitten wie die aller CEOs, aber verschiedene abgewetzte Stellen belegten, wie lange es schon her war, seit die Senior-CEO auf Simur sich einen neuen Anzug geleistet hatte.
Die Frau sprach abgehackt, was so klang, als würde sie von jedem Wort den Rest verschlucken. »Ich muss gegen das aggressive Verhalten der bewaffneten Streitkräfte der Allianz in diesem Sternensystem protestieren. Allein die Verpflichtung der Syndikatwelten, den Wortlaut des Friedensvertrags zwischen unseren Völkern zu achten, hält mich davon ab, eine entsprechende Reaktion auf die Bewegungen Ihrer Flotte anzuordnen.«
Geary versuchte, sich über die Antwort nicht zu ärgern, da er wusste, dass er sonst irgendwelche Nuancen im Tonfall oder in den Bewegungen der Syndik-CEO nicht mitbekam. Aber auch wenn es ihn Mühe kostete, die Ruhe zu bewahren, entging ihm nicht, dass diese CEO sich irgendwie anders anhörte und auch eine andere Körperhaltung aufwies. Dann wurde ihm bewusst, dass sie nicht nur zu ihm, sondern zu einem größeren Publikum sprach.
»Die mobilen Streitkräfte, gegen deren Verhalten Sie protestieren, unterstehen nicht meiner Kontrolle«, redete die CEO weiter und sprach damit etwas aus, das sich aus dem Mund eines Syndiks untypisch wahrheitsgemäß anhörte. Hatte sie das Wort »meiner« tatsächlich etwas stärker betont?
»Ich kann nichts unternehmen, um sie aufzuhalten. Ich habe ihnen nicht den Auftrag erteilt, Sie zu behelligen. Diese Einheiten sind keine mobilen Streitkräfte der Syndikatwelten, von daher betrachte ich das Ganze als eine Angelegenheit zwischen Ihnen und demjenigen, der diese Streitkräfte befehligt.«
Die CEO machte eine ungeduldige Geste, in dem sie eine Hand in einer gut einstudierten Geste hastig zur Seite bewegte. Damit hatte sie ihre Untergebenen zweifellos über Jahrzehnte hinweg in Angst und Schrecken versetzt. »Was das Gefangenenlager angeht, bin ich mir der Verpflichtungen der Syndikatwelten mit Blick auf den Friedensvertrag durchaus bewusst. Dennoch bin ich äußerst betrübt darüber, dass Sie die Freilassung dieser Gefangenen fordern, anstatt uns anzubieten, über das Thema zu diskutieren. Zweifellos werden Sie festgestellt haben, dass wir in diesem Sternensystem nur über unzureichende Verteidigungsanlagen verfügen. Daher bin ich nicht in der Lage, Ihrer Forderung nach Freilassung etwas entgegenzusetzen. Allerdings werde ich auch in keiner Weise mit Ihnen kooperieren. Bringen Sie Ihre Flotte her, nutzen Sie Ihre eigenen Möglichkeiten, die Gefangenen auf Ihre Schiffe zu holen, und dann verlassen Sie dieses System – je früher, je lieber. Es wird mir eine Freude sein, nicht länger sechstausend hungrige Mäuler durchfüttern zu müssen. Für das Volk. Gawzi, Ende.«
Wie für Senior-CEOs üblich wurde der Satz »Für das Volk« so hastig ausgesprochen, als wäre es ein einziges Wort, dem keinerlei Bedeutung zukam. Geary hatte schon seit Langem nicht mehr darauf geachtet, bis der in diese Worte gelegte Enthusiasmus von Präsidentin Iceni bei Midway ihn daran erinnert hatte, dass sie früher einmal tatsächlich etwas bedeutet haben mussten.
Rione wartete auf seinen Kommentar und machte einen leicht ungeduldigen Eindruck.
»Was halten Sie von der Nachricht?«, wollte Geary wissen. »Diese CEO hörte sich für mich irgendwie anders an als üblich.«
»Das liegt daran, dass ihr jemand eine Waffe an die Schläfe gedrückt hält«, erwiderte Rione.
»In welchem Sinn?«
»Im wörtlichen. Jemand ist in ihrer Nähe und droht ihr, aber er hält sich von dem Bild fern, das an uns übertragen wird. Das ist offensichtlich.«
Es gab Momente, da hatte Riones Fähigkeit, Situationen richtig einzuschätzen, etwas Beunruhigendes. Unwillkürlich fragte er sich, welche Erfahrungen sie gemacht haben musste, um die Lage dieser Syndik-CEO so einschätzen zu können, wie sie es soeben getan hatte. »Diese Leute von der Inneren Sicherheit?«
Sie nickte entschieden. »Höchstwahrscheinlich. Diejenigen, die von den Syndiks als Schlangen bezeichnet werden. Wir können getrost davon ausgehen, dass die jetzt die Kontrolle über dieses Sternensystem übernommen haben. Sie werden jetzt nicht mehr aus dem Verborgenen heraus die Fäden ziehen, sondern offen agieren.«
»Wenn das so sein sollte«, überlegte Geary, »dann wird die CEO von diesen Leuten gezwungen, uns dazu einzuladen, dass wir unsere Leute aus dem Lager holen.«
Abermals nickte Rione. »Es war keine nett formulierte Einladung, allerdings war es interessant, wie sie es geschafft hat, es nach einer Herausforderung klingen zu lassen. Und sie hat uns die Bestätigung gegeben, dass hier sechstausend von unseren Leuten festgehalten werden.«
»Die wollen, dass wir zu diesem Lager kommen.«
»Richtig. Aber wenn ich das richtig deute, trifft ihre Aussage zu, dass sie nicht über die Mittel verfügt, sich gegen uns zur Wehr zu setzen. Die Gefangenen sollten daher sehr gründlich nach Pathogenen, Nanopartikeln und allen anderen Formen eines von Menschen übertragbaren Sabotageaktes abgesucht werden.«