Noch nie hatte mich ein Vertreter der Macht mitnehmen dürfen. Noch dazu entweder jemand aus den höheren Rängen der Miliz oder ein Mafiapate. Vom Kopf her war mir klar, dass sie für einen Wächter mit seinen Möglichkeiten allesamt gleich waren, doch ausprobiert hatte ich dergleichen noch nie.
»Ja, dorthin, woher die anderen kamen. Und zwar
möglichst schnell…«
»Hörst du, Wolodka«, wandte sich der Abgeordnete an den Fahrer.»Also sieh zu!«
Wolodka gab Gas. Und zwar so energisch, dass mir ganz anders wurde und ich ins Zwielicht spähte: Ob wir mit heiler Haut ankommen?
Ja, das würden wir. Allerdings nicht wegen des meisterlichen Könnens des Fahrers oder des Erfolgskoeffizienten, der bei mir, wie bei jedem Wächter, künstlich heraufgesetzt worden war. Vielmehr schien sich jemand das Wahrscheinlichkeitsfeld vorgenommen und alle Unfälle, Staus und neidischen Verkehrspolizisten aus dem Weg geräumt zu haben.
In unserer Abteilung bringt dergleichen nur der Chef fertig. Aber wozu?
»Mir ist auch bange…«, flüsterte auf meiner Schulter der unsichtbare Vogel.»Als ich mit dem Grafen…«
Sie verstummte, als habe sie sich ertappt, allzu mitteilsam gewesen zu sein.
Das Auto bretterte bei Rot über eine Kreuzung und wich einigen PKW sowie einem Laster aus, wobei es sich halb auf eine Seite legte. An einer Haltestelle wies jemand mit der Hand in unsere Richtung.
»Auch ein Schlückchen?«, fragte der Abgeordnete freundlich. Er hielt mir eine kleine Flasche Remy Martin und einen Einwegbecher aus Plastik hin. Das Ganze wirkte so komisch, dass ich mir ohne zu zögern dreißig Gramm eingoss. Selbst bei der Geschwindigkeit und der miserablen Straße fuhr der Wagen ruhig, sodass der Kognak nicht überschwappte.
Ich gab die Flasche zurück, nickte, holte die Kopfhörer aus der Tasche, stöpselte sie mir in die Ohren und
schaltete die Mini-Disc ein. Ein uraltes Lied der Gruppe Woskressenje erklang, mein Lieblingsstück.
Da gab es eine Stadt wie Kinderspielzeug klein,
Sie kannte längst schon nicht mehr Krankheit, Invasion.
Die Straße lief vorbei ins weite Land hinein,
Ein rostiges Geschütz stand still auf der Bastion.
Und Jahr für Jahr kein Fest und keine Arbeit schwer -
Das ganze Städtchen schlief.
Doch Länder sah’s im Traum mit Städten, menschenleer,
Gehaun in Felsen tief.
Wir kamen auf die Hauptstraße. Der Wagen raste immer schneller dahin, noch nie hatte ich mit einer derartigen Geschwindigkeit Moskau durchquert. Und nicht nur Moskau… Wenn das Wahrscheinlichkeitsfeld nicht freigemacht worden wäre, hätte ich ihn dazu gebracht, das Gas wegzunehmen - es war einfach zu beängstigend.
Bis eines Tags Musik im kalten Stein erklang,
Das Städtchen aber schlief…
Wohin rief die Musik? Wen lockte jener Sang?
Man weiß nicht, wer da rief…
Unwillkürlich fiel mir ein, dass der Sänger Romanow selbst ein Anderer war. Nur nicht initiiert. Man war zu spät auf ihn aufmerksam geworden… Dann hatte man ihm zwar ein Angebot gemacht, doch er hatte abgelehnt.
Auch eine Möglichkeit.
Wie oft er diese Musik wohl in der Nacht hörte?
Doch wer in schwüler Nacht die Fenster offen ließ -
Die findet man nicht mehr.
Sie zogen in ein Land, wo Leben Leben hieß,
Dem Liede hinterher…
»Willst du noch was?«Der Abgeordnete war die Fürsorge in Person. Was Bär und Tigerjunges ihm wohl eingeflüstert hatten? Dass ich sein bester Freund bin? Dass er für immer in meiner Schuld steht? Dass ich der außereheliche, aber heiß geliebte Sohn des Präsidenten bin?
Wie albern das alles ist! Es gibt Hunderte von Möglichkeiten, das Vertrauen der Menschen, ihre Sympathie und Hilfsbereitschaft zu gewinnen. Das Licht hat seine eigenen Methoden, leider verfügt jedoch auch das Dunkel über eine ganze Reihe davon. Albern.
Denn die Frage ist doch: Wozu braucht der Chef mich?
Sechs
Ilja erwartete mich am Straßenrand. Er stand mit in die Taschen gestopften Händen da und schaute angewidert in den Himmel, von dem feiner Schnee herabrieselte.
»Endlich«, sagte er bloß, nachdem ich mich mit einem Handschlag von dem Abgeordneten verabschiedet hatte und aus dem Wagen gestiegen war.»Dem Chef reicht die Warterei langsam.«
»Was geht hier vor?«
Ilja grinste. Doch keine Spur normaler Lebensfreude lag in diesem Lächeln.»Wirst du gleich sehen… Gehen wir.«
Wir marschierten einen platt gestampften Weg entlang und wichen den Frauen aus, die voll gepackt mit Taschen vom Supermarkt kamen. Komisch, obwohl wir jetzt richtige Supermärkte haben, stapfen die Leute immer noch so wie früher davon - als ob sie gerade eine Stunde für blaue Hühnerleichen angestanden hätten.
»Ist es weit?«, fragte ich.
»Wenn es weit wäre, würde ich fahren.«
»Was ist mit unserm Sexgiganten? Ist er klargekommen?«
»Ignat hat sich Mühe gegeben«, erwiderte Ilja bloß. Aus irgendeinem Grund verspürte ich ein kurzes und rachsüchtiges Vergnügen, als ob das Scheitern des Schönlings Ignat mir von Nutzen sei. Wenn die Sache es erforderte, landete er normalerweise binnen ein, zwei Stunden nach Erhalt des Auftrags im entsprechenden Bett.
»Der Chef hat Bereitschaft zur Evakuierung angeordnet«, meinte Ilja plötzlich.
»Was?«
»Volle Bereitschaft. Wenn der Strudel nicht stabilisiert werden kann, verlassen die Anderen Moskau.«
Da er vor mir herging, konnte ich ihm nicht in die Augen sehen. Doch weshalb hätte Ilja mich anlügen sollen?
»Und der Strudel ist nach wie vor…«, setzte ich an. Und verstummte. Ich sah es selbst.
Vor uns drehte sich über einem trostlosen achtstöckigen Hochhaus im dunklen, schneeverhangenen Himmel langsam der schwarze Wirbelsturm.
Man konnte ihn schon nicht mehr Strudel oder Wirbelwind nennen. Nur noch Wirbelsturm. Er wand sich nicht aus diesem Haus heraus, sondern aus dem dahinter, das wir noch nicht zu erkennen vermochten. Und in Anbetracht des Winkels dieses dunklen Kegels musste der Wirbelsturm fast aus der Erde herauswachsen.
»Teufel…«, flüsterte ich.
»Beschrei hier nichts!«, fuhr mir Ilja über den Mund.»Der kommt sonst wirklich.«
»Er muss mindestens dreißig Meter…«
»Zweiunddreißig. Und er wächst weiter.«
Rasch schaute ich auf meine Schulter, wo ich Olga erblickte. Sie war aus dem Zwielicht herausgetreten.
Haben Sie jemals einen erschrockenen Vogel gesehen? Wie ein Mensch erschrocken?
Der Eule schien sich das Gefieder zu sträuben. Ob
Federn zu Berge stehen können? In ihren Augen brannte ein gelb-orangefarbenes Bernsteinfeuer. Meine arme Jacke wurde an der Schulter völlig zerfetzt, während die Krallen weiter und weiter auf sie einhackten, als wollten sie sich bis zu meinem Fleisch vorarbeiten.
»Olga!«
Ilja drehte sich um und nickte.»Ach ja… Der Chef behauptet, dass der Strudel in Hiroshima kleiner war.«
Die Eule flatterte mit den Flügeln und erhob sich lautlos und leicht in die Luft. Hinter mir kreischte eine Frau auf - ich drehte mich um und blickte in ein entsetztes Gesicht und weit aufgerissene Augen, die dem Vogel folgten.
»Da fliegt eine Krähe«, verkündete Ilja ruhig, wobei er sich halb zu der Frau herumdrehte und sie beobachtete. Seine Reaktionsfähigkeit übertraf die meine bei weitem. Im nächsten Moment hatte die zufällige Zeugin uns umrundet, wobei sie unzufrieden etwas über den viel zu schmalen Pfad und über Leute brummelte, die anderen gern den Weg versperren.