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Mit geschlossenen Augen saß ich da und hörte schon zum dritten Mal an diesem Abend die fünfte Symphonie von Manfredini. Die Mini-Disc im Player war absolut verrückt, meine höchstpersönliche Zusammenstellung, bei der sich das italienische Mittelalter und Bach mit den Rockgruppen Alissa und Piknik oder Ritchie Blackmore ablösten.

Es war immer spannend, welche Melodie mit welchem Ereignis zusammentraf. Heute untermalte Manfredini mein Glück.

Etwas presste mich zusammen, ein Krampf, der von den Zehen bis zu den Haarwurzeln alles erfasste. Ich zischte sogar unwillkürlich irgendwas, als ich die Augen öffnete und den Blick durch den Waggon schweifen ließ.

Sofort entdeckte ich die Frau.

Eine junge und sehr sympathische Frau. In einem eleganten Pelz, mit einer Handtasche und einem Buch in Händen.

Und mit einem derart gewaltigen schwarzen Wirbelwind über dem Kopf, wie ich ihn seit bestimmt drei Jahren nicht mehr gesehen hatte!

Vermutlich guckte ich wie ein Wahnsinniger drein. Was die Frau spürte, denn sie sah zu mir herüber, wandte den Blick aber gleich wieder ab.

Du solltest lieber nach oben schauen!

Nein, sie war natürlich nicht imstande, den Strudel zu sehen. Bestenfalls konnte sie etwas spüren, eine leichte Unruhe. Und nur ganz vage, nur aus den Augenwinkeln heraus, vermochte sie ein Flirren über ihrem Kopf wahrzunehmen - als schwirrten Fliegen über ihr, als flimmerte an einem heißen Tag die Luft über dem Asphalt…

Doch sehen konnte sie nichts. Nichts. Sie würde noch einen oder zwei Tage leben, bevor sie auf Glatteis ausrutschte, und zwar so, dass sie eine tödliche Kopfverletzung davontrug. Oder sie würde unter ein Auto geraten. Oder im Hauseingang ins Messer eines Verbrechers laufen - der nicht die geringste Ahnung hatte, warum er diese Frau umbrachte. Und alle Welt würde sagen:»Sie war so jung, das ganze Leben lag noch vor ihr, alle haben sie gern gehabt…«

Ja. Ganz bestimmt. Das glaube ich, zu gut und zu freundlich ist ihr Gesicht. Müdigkeit zeichnet sich in ihm ab, aber keine Verbitterung. Neben einer solchen Frau fühlst du dich nicht so mies, wie du eigentlich bist. Du versuchst, besser zu sein, auch wenn es dir schwer fällt. Mit solchen Frauen möchte man gern befreundet sein, ein wenig flirten, Geheimnisse teilen. In solche Frauen verliebt man sich selten, doch lieben tun alle sie.

Bis auf den einen, der den Dunklen Magier bezahlt hat.

Ein schwarzer Strudel ist im Grunde eine völlig alltägliche Erscheinung. Als ich mich umsah, konnte ich noch weitere fünf oder sechs entdecken, die über den Köpfen der Fahrgäste hingen. Doch sie alle wirkten verwischt, trübe und drehten sich kaum. Resultate eines absolut durchschnittlichen, unprofessionellen Fluchs. Jemand wirft einem anderen ein»Verrecken sollst du, Dreckskerl!«hinterher. Ein anderer drückt es schlichter, weniger hart aus:»Hol dich doch der Kuckuck!«Und von der Dunklen Seite rankt sich ein kleiner Wirbelsturm herüber, der das Glück aus einem herauspresst, der die Kräfte aussaugt.

Doch ein gewöhnlicher Fluch, ein dilettantischer und unausgegorener Fluch, hält bloß ein, zwei Stunden, maximal einen Tag an. Seine Folgen sind zwar unangenehm, aber auf gar keinen Fall tödlich. Der schwarze Strudel über der Frau war von einem anderen Kaliber, stabil, geschaffen von einem erfahrenen Magier. Ohne dass die Frau es wusste, war sie bereits tot.

Automatisch fuhr meine Hand zu meiner Tasche, dann machte ich mir jedoch klar, wo ich war, und verzog das Gesicht. Warum funktionieren Handys in der Metro bloß nicht? Fahren ihre Besitzer etwa nicht mit der Untergrundbahn?

Nun zerrten an mir sowohl meine eigentliche Aufgabe, die ich erfüllen musste, auch wenn kaum Aussicht auf Erfolg bestand, wie auch die Sorge um die mit dem Fluch belegte Frau. Mir war unklar, ob für sie nicht jede Hilfe zu spät kam, doch auf alle Fälle musste ich denjenigen finden, der hinter dem Strudel steckte.

In dem Moment traf mich ein zweiter Schlag. Diesmal anders. Ohne Krampf, ohne Schmerz, nur die Kehle trocknete mir aus, mein Zahnfleisch ertaubte, das Blut pulsierte mir in den Schläfen, die Fingerspitzen fingen zu jucken an.

Treffer!

Aber warum ausgerechnet jetzt?

Ich erhob mich. Der Zug bremste bereits vor der nächsten Station ab. Ich ging an der Frau vorbei und spürte ihren Blick. Sie sah mir nach. Ängstlich. Auch wenn sie den schwarzen Wirbel nicht wahrnahm, machte er sie anscheinend nervös, zwang sie, die Leute in ihrer Nähe im Auge zu behalten.

Vielleicht war sie überhaupt nur deshalb noch am Leben?

Möglichst ohne in ihre Richtung zu blicken, steckte ich die Hand in die Tasche. Ertastete das Amulett, einen kalten, aus Onyx geschnitzten Stab. Eine Sekunde zögerte ich und versuchte, mir etwas anderes einfallen zu lassen.

Nein, es gab keine andere Möglichkeit.

Fest packte ich den Stab. Ein stechendes Kribbeln durchschoss meine Finger, dann wurde der Stein wärmer und gab die gespeicherte Energie ab. Dieser Eindruck stimmte, obwohl diese Wärme nicht mit dem Thermometer zu messen ist. Es war, als würde ich ein kleines Kohlestück aus einem Lagerfeuer zusammenpressen - ein Stück Kohle, das mit kalter Asche überzogen war, im Innern jedoch glühte.

Nachdem ich die Kraft des Amuletts völlig in mich eingesogen hatte, warf ich einen Blick auf die Frau. Der schwarze Strudel vibrierte und neigte sich leicht in meine Richtung. So stark, wie der Wirbel war, musste er in Ansätzen sogar über eine gewisse Intelligenz verfügen.

Ich schlug zu.

Wenn im Waggon - doch was heißt im Waggon -, wenn im ganzen Zug nur ein weiterer Anderer gewesen wäre, hätte er einen grellen Blitz gesehen, der mit gleicher Leichtigkeit durch Metall wie durch Beton schlug.

Nie zuvor hatte ich auf einen schwarzen Wirbel von derart komplizierter Struktur eingeschlagen. Und nie zuvor hatte ich das Amulett eingesetzt, wenn es derart aufgeladen war.

Die Wirkung übertraf absolut alles. Die schwächeren Flüche, die über anderen Leuten hingen, lösten sich in nichts auf. Eine ältere Frau, die sich müde die Stirn rieb, blickte verwundert auf ihre Hand: Ihre schwere Migräne war mit einem Mal wie weggeblasen. Ein junger Mann, der stumpfsinnig durch die Scheibe starrte, zuckte zusammen, seine Miene entspannte sich - und die dumpfe Schwermut wich aus seinem Blick.

Der schwarze Wirbel über der Frau schrumpfte um fünf Meter und schlingerte sogar zur Hälfte aus dem Waggon. Seine Struktur verlor er jedoch nicht, und im Zickzack fand er den Weg zurück zu seinem Opfer.

Was für eine Kraft!

Was für eine Zielsicherheit!

Es heißt - wobei ich zugeben muss, dass ich so etwas noch nie gesehen habe -, ein Wirbel verliere, sobald er auch nur um zwei, drei Meter gekappt wird, die Orientierung und hänge sich an den nächstbesten Menschen an. Auch kein Zuckerschlecken, aber fremde Flüche sind viel schwächer, womit das neue Opfer alle Chancen hat zu überleben.

Dieser Wirbel jedoch kam hartnäckig zurück wie ein treuer Hund zu seinem in Not geratenen Herrn!

Die Metro hielt. Ich betrachtete ein letztes Mal den Wirbel, der jetzt wieder über der Frau hing und sich sogar noch schneller drehte. Und es gab nichts, absolut nichts, was ich hätte tun können. Irgendwo hier auf diesem Bahnsteig, in greifbarer Nähe, befand sich das Ziel, das ich eine Woche lang in ganz Moskau gesucht hatte. Es jetzt laufen lassen, um der Frau zu folgen, das konnte ich einfach nicht. Der Chef würde mich in der Luft zerreißen - möglicherweise nicht nur im übertragenen Sinne.