»Sebulon…«, wiederholte ich, während ich das Amulett betrachtete.»Du hast keine Macht mehr über mich.«
Das Medaillon erwärmte sich in meiner Hand. Ich legte es über meinem Hemd an, nickte dem Dunklen Magier zu und ging zum Chef hinüber.
»So stehen die Dinge, Anton«, nuschelte der Chef, das Mundstück der Wasserpfeife zwischen den Lippen.»So stehen sie. Siehst du das da?«
Ich schaute zum Fenster hinaus und nickte.
Der schwarze Wirbelwind wuchs aus einem achtstöckigen Haus heraus, das genau dem entsprach, in dem wir uns befanden. Der schmale geschmeidige Stängel des Wirbels wurzelte irgendwo im Erdgeschoss. Indem ich mich ins Zwielicht hineinstreckte, vermochte ich die Wohnung genau auszumachen.
»Wie konnte das passieren?«, fragte ich.»Boris Ignatjewitsch, das ist kein Ziegel mehr, der einem auf den Kopf fällt… keine Gasexplosion im Hauseingang…«
»Wir tun, was wir können.«Dem Chef schien daran gelegen, sich mir gegenüber zu rechtfertigen.»Wir haben alle Raketenbasen unter unserer Kontrolle, auch die in Amerika und Frankreich, in China werden die entsprechenden Maßnahmen gerade zum Abschluss gebracht. Schwieriger ist es mit taktischen Atomwaffen. Die einsatzfähigen Laserraketen können wir auf gar keinen Fall alle identifizieren. Bakteriologisches Dreckszeug gibt es in der Stadt genug… Vor etwa einer Stunde wäre es im Institut für Virenforschung beinahe zu einer Freisetzung gekommen.«
»Das Schicksal täuscht man nicht«, bemerkte ich zögernd.
»Eben. Wir stopfen ein Leck im Boden eines Schiffes. Dabei ist das Schiff bereits in der Mitte geborsten.«
Mit einem Mal bemerkte ich, dass alle - der Dunkle Magier, Olga, Lena und die Kampfspezis - mich ansahen. Mir wurde unbehaglich zumute.
»Boris Ignatjewitsch?«
»Du bist mit ihr verbunden.«
»Was?«
Der Chef seufzte und nahm die Pfeife aus dem Mund, sodass kalter Opiumrauch zu Boden sickerte.»Du, Anton Gorodezki, Programmierer, alleinstehend und mit mittleren Fähigkeiten, bist mit der Frau verbunden, über der diese schwarze Sauerei hängt.«
Der Dunkle Magier in der Ecke seufzte kaum hörbar auf. Etwas Besseres, als»Warum?«zu fragen, fiel mir nicht ein.
»Ich weiß es nicht. Wir haben Ignat auf sie angesetzt, und der hat gute Arbeit geleistet. Du weißt, dass er jeden und jede bezirzen kann.«
»Aber mit ihr hat es nicht geklappt?«
»Doch. Nur dass der Strudel plötzlich gewachsen ist. In der halben Stunde, die sie miteinander verbracht haben, ist er von anderthalb Meter auf fünfundzwanzig Meter angewachsen. Wir mussten ihn zurückrufen… Umgehend.«
Ich schielte zu dem Dunklen Magier hinüber. Sebulon schien zu Boden zu blicken, hob dann jedoch den Kopf. Diesmal brach meine Verteidigung nicht ein: Das Amulett schützte mich zuverlässig.
»Wir brauchen das nicht«, sagte er leise.»Nur ein Wilder tötet einen Elefanten, um zum Frühstück ein Stück Fleisch zu haben.«
Der Vergleich missfiel mir. Vermutlich log Sebulon aber nicht.
»Ein solches Ausmaß an Zerstörung benötigen wir nur selten«, fügte der Dunkle Magier hinzu.»Momentan laufen bei uns keine Projekte, für die eine solche Freisetzung von Energie nötig wäre.«
»Das will ich hoffen…«, ließ sich der Chef mit fremder, knarrender Stimme vernehmen.»Sebulon, du
solltest wissen, dass wir im Falle einer Katastrophe… ebenfalls den größtmöglichen Nutzen herausholen würden.«
Auf dem Gesicht des Dunklen Magiers deutete sich der Schatten eines Lächelns an.
»Die Zahl der Menschen, die dann in Panik geraten werden, die Tränen vergießen und Kummer empfinden werden, wird ungeheuer sein. Doch größer, unermesslich viel größer wird die Zahl derjenigen sein, die gierig vor dem Fernseher kleben, sich an fremdem Leid laben, sich darüber freuen, dass die Katastrophe ihre Stadt verschont hat, die über das Dritte Rom witzeln, das seine Strafe ereilt… seine Gottesstrafe. Das weißt du, mein Feind.«
Das war keine Schadenfreude - hochrangige Dunkle sind solch einer primitiven Reaktion gar nicht fähig. Sondern pure Information.
»Und dennoch sind wir darauf vorbereitet«, sagte Boris Ignatjewitsch.»Das weißt du.«
»In der Tat. Doch wir sind im Vorteil. Falls du nicht noch das eine oder andere Ass im Ärmel hast, Boris.«
»Du weißt, dass ich immer vier Asse habe.«
Der Chef wandte sich mir zu, als habe er jedes Interesse an dem Dunklen Magier verloren.»Anton, der Strudel wird nicht von der Tagwache gespeist. Er geht auf eine Einzelperson zurück. Auf einen unbekannten Dunklen Magier mit unglaublicher Kraft. Er hat Ignat gespürt und daraufhin das Wachstum forciert. Jetzt bist du unsere einzige Hoffnung.«
»Warum?«
»Ich habe es dir schon gesagt: Ihr seid miteinander verbunden. Anton, das Wahrscheinlichkeitsfeld weist drei Möglichkeiten auf.«
Der Chef machte ein Zeichen mit der Hand, und in der Luft entrollte sich die weiße Fläche einer Leinwand. Sebulon verzog das Gesicht, vermutlich hatte ihn der Energieausstoß leicht gestreift.
»Die erste Entwicklungslinie«, sagte der Chef. Über die weiße Leinwand, die freischwebend in der Mitte des Zimmers hing, lief ein schwarzer Streifen. Am Ende blähte er sich zu einem unförmigen Klecks auf, der über den Rand des Schirms hinausreichte.»Der wahrscheinlichste Weg. Der Strudel erreicht sein Maximum, und das Inferno bricht durch. Millionen von Opfern. Eine globale Katastrophe - atomarer Art, biologischer, ein Asteoridenniederschlag, ein Erdbeben der Stärke zwölf. Alles, was du dir nur vorstellen kannst.«
»Was ist mit einem direkten Ausbruch des Infernos?«, fragte ich vorsichtig. Ich linste zum Dunklen Magier hinüber: Seine Miene wirkte unbeteiligt.
»Nein. Wohl kaum. Die Schwelle ist noch lange nicht erreicht.«Der Chef nickte.»Andernfalls hätten sich Tag- und Nachtwache meiner Ansicht nach schon gegenseitig vernichtet. Der zweite Weg…«
Eine dünne Linie, die von dem schwarzen Streifen abging. Ein abgerissener Ausläufer.
»Die Vernichtung des Ziels. Der Wirbel löst sich auf, sobald sein Ziel stirbt - ganz von selbst.«
Sebulon bewegte sich.»Ich bin gern bereit, bei dieser kleinen Aktion behilflich zu sein«, bot er liebenswürdig an.»Die Nachtwache kann das allein nicht bewerkstelligen, nicht wahr? Wir stehen also zu Ihren Diensten.«
Stille senkte sich herab. Dann lachte der Chef los.
»Wie Sie wollen.«Sebulon zuckte mit den Schultern.»Ich wiederhole, dass wir unsere Dienste anbieten. Wir brauchen keine globale Katastrophe, die augenblicklich Millionen Menschen tötet. Noch nicht.«
»Der dritte Weg«, sagte der Chef mit Blick auf mich.»Schau genau hin!«
Eine weitere Linie schlängelte sich aus der gemeinsamen Wurzel heraus. Verjüngte sich und verlief im Nichts.
»Er besteht darin, dass du auf den Plan trittst, Anton.«
»Was soll ich tun?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht. Die Wahrscheinlichkeitsprognose gibt nie genaue Hinweise. Bekannt ist nur eins: Dass du den Strudel bannen kannst.«
Mir huschte der dumme Gedanke durch den Kopf, dass mein Test noch nicht abgeschlossen war. Die Erprobung im Einsatz… Den Vampir hatte ich getötet, und jetzt… Doch nein. Das konnte nicht sein. Nicht, wenn so viel auf dem Spiel stand!
»Ich habe noch nie einen schwarzen Strudel gebannt.«Meine Stimme klang irgendwie fremd, nicht unbedingt verängstigt, eher erstaunt. Der Dunkle Magier Sebulon kicherte - auf widerwärtige, weibische Weise.
»Ich weiß, Anton«, meinte der Chef nickend.