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»Aber du hast Recht… Noch ein Mensch braucht Hilfe.«

»Du bist seltsam, Anton.«

Ich schüttelte den Kopf.»Nicht seltsam. Sehr seltsam.«

»Ich habe den Eindruck… als ob ich dich schon seit langem kenne, dich aber zum ersten Mal sehe. Und als ob du zugleich mit mir und mit noch jemand anderem sprichst.«

»Ja«, sagte sich.»So ist es.«

»Werde ich vielleicht wahnsinnig?«

»Nein.«

»Anton… Du bist doch nicht zufällig zu mir gekom-

men.«

Ich antwortete nicht. Olga flüsterte etwas und verstummte. Langsam drehte sich über Swetlanas Kopf der riesige Wirbel.

»Nein«, sagte ich.»Sondern um zu helfen.«

Wenn der Dunkle Magier, der sie mit dem Fluch belegt hat, uns beobachtet… Wenn das alles doch kein Zufall ist, kein»Fluch einer Mutter«, sondern ein zielgerichteter professioneller Schlag…

Diese Wolke des Dunkels über Swetlanas Kopf bedurfte nur eines weiteren Tropfens Hass. Es würde genügen, ihren Lebenswillen um ein Geringes zu vermindern. Dann käme es zum Durchbruch. Im Zentrum von Moskau würde ein Vulkan ausbrechen, bei einem Kampfsatelliten die Elektronik durchdrehen, ein Grippevirus mutieren…

Schweigend sahen wir einander an.

Ich hatte den Eindruck, dass ich kurz davor war zu durchschauen, was hier in Wahrheit vor sich ging. Des Rätsels Lösung war zum Greifen nah, und alle unsere Versionen waren dumm und banal, all die alten Regeln und Muster, von denen wir uns leiten ließen, auch wenn der Chef gebeten hatte, sie über Bord zu schmeißen. Doch dann musste man nachdenken, musste sich, wenn auch nur für eine Sekunde, von den Geschehnissen losreißen, die nackte Wand anstarren oder den idiotischen Fernseher, sich nicht von dem Wunsch zerreißen lassen, einem einzelnen kleinen Menschen zu helfen und Zehntausenden, Hunderttausenden von Menschen dafür nicht. Dann durfte man sich nicht in jenem Morast bewegen, den diese perfide Wahl darstellt - die bei jeder Entscheidung perfide bliebe, mit dem einzigen Unterschied, dass ich in einem Fall schnell sterben, mit dem Höllenschlag in die grauen Weiten der Zwielicht-Welt übergehen würde, im andern langsam und qualvoll, während in meinem Herzen das matte Feuer der Selbstverachtung auflodert.

»Sweta, ich muss gehen«, sagte ich.

Anton! Das war nicht Olga, sondern der Chef. Anton…

Er stockte. Befehle konnte er mir nicht erteilen, denn die Situation war in eine ethische Sackgasse geraten. Offenbar bestand die Vampirin auf ihrer Forderung und wollte mit niemandem sonst verhandeln. Wenn der Chef mir befahl zu bleiben, brachte er den Jungen um - das konnte er mir nicht befehlen. Selbst darum bitten konnte er nicht.

Wir organisieren deinen Abgang…

Teilt der Blutsaugerin lieber mit, dass ich komme.

Swetlana streckte den Arm aus und berührte zart meine Hand.»Kommst du wieder?«

»Morgen«, sagte ich.

»Das will ich nicht«, sagte die Frau schlicht.

»Ich weiß.«

»Wer bist du?«

Eine Schnelleinführung in die Geheimnisse des Universums? Klappe, die nächste?

»Ich sag’s dir morgen. Abgemacht?«

Du hast den Verstand verloren, ließ sich die Stimme des Chefs vernehmen.

»Musst du wirklich gehen?«

Sag das bloß nicht!, schrie Olga. Sie konnte meine Gedanken spüren.

»Sweta«, fing ich dennoch an,»als man dir vorgeschlagen hat, dich zu verstümmeln, um das Leben deiner Mutter zu retten, und du abgelehnt hast… Das war doch richtig und vernünftig, oder? Doch jetzt geht es dir schlecht. So schlecht, dass du dir wünschst, lieber unvernünftig gehandelt zu haben.«

»Wenn du jetzt nicht gehst, fühlst du dich dann schlecht?«

»Ja.«

»Dann geh. Aber komm wieder, Anton.«

Ich erhob mich vom Tisch und ließ den kalt gewordenen Tee stehen. Der Höllenwirbel schlingerte über uns.

»Ganz bestimmt«, sagte ich.»Und… glaub mir, noch ist nicht alles verloren.«

Danach wechselten wir kein Wort mehr miteinander. Ich ging hinaus, die paar Stufen hinunter. Swetlana schloss die Tür hinter mir. Diese Stille - eine tödliche Stille, selbst die Hunde waren in dieser Nacht zum Winseln zu müde.

Unvernünftig. Ich handle völlig unvernünftig. Wenn es ethisch keinen überzeugenden Ausweg gibt, dann muss man unvernünftig handeln. Hatte mir das jemand gesagt? Oder erinnerte ich mich an eine Zeile aus meinen alten Unterrichtsaufzeichnungen, einen Satz aus einer Vorlesung? Oder suchte ich nach einer Rechtfertigung?

Der Strudel… flüsterte Olga. Die Stimme war kaum wiederzuerkennen, tonlos. Ich hätte gern den Kopf eingezogen.

Ich stieß die Haustür auf und stürzte auf den über-frorenen Gehweg hinaus. Die weiße Eule kreiste wie ein Federknäuel über meinem Kopf.

Der Höllenwirbel hatte sich verkleinert, war geschrumpft. In Anbetracht seiner Gesamtgröße zwar nur ein bisschen, doch immerhin genug, um es mit bloßem Auge zu erkennen, anderthalb, zwei Meter.

Wusstest du, dass es so kommen würde?, fragte der Chef.

Kopfschüttelnd blickte ich auf den Wirbel. Was ging hier vor? Warum war der Strudel angewachsen, als Ignat auftauchte, ein Spezialist, wenn es darum ging, Menschen in eine milde Gemütsverfassung zu versetzen? Und warum ließ mein verworrenes Gerede und mein überstürzter Abgang den Wirbel schrumpfen?

Die Gruppe der Analytiker soll einen Zahn zulegen, sagte der Chef. Mir war klar, dass sich das an alle richtete, nicht mehr nur an mich. Wann können wir mit einer Arbeitsversion zu den Ereignissen rechnen?

Das Auto tauchte vom Seljony-Prospekt auf, hüllte mich in das Licht der Scheinwerfer, quietschte mit den Reifen, polterte über die Löcher des aufgerissenen Asphalts hinweg und hielt vorm Haus. Das flach liegende, dunkel orangefarbene Sportcabriolet wirkte absurd zwischen all den trostlosen hohen Plattenbauten Moskaus, wo das beste Verkehrsmittel nach wie vor der Jeep ist.

Semjon lehnte sich vom Fahrersitz aus hinaus.»Steig ein«, forderte er mich auf.»Wir sollen dich schnellstmöglich abliefern.«

Ich sah in Olgas Richtung, die den Blick spürte.

Meine Aufgabe ist hier. Fahr los.

Ich ging um den Wagen herum und stieg vorn ein. Hinten lümmelte sich Ilja, offenbar glaubte der Chef, Bär und Tigerjunges Verstärkung schicken zu müssen.

Anton, erreichte mich durchs Zwielicht Olgas Stimme. Vergiss nicht… dass du heute Schulden gemacht hast. Behalt das im Hinterkopf, jede Sekunde…

Ich verstand nicht sofort, wovon sie sprach. Etwa von der kleinen Hexe aus der Tagwache? Was hatte die denn damit zu tun?

Das Auto schoss los und knallte mit dem Boden an die überfrorenen Betonhöcker der Straße. Semjon fluchte, was das Zeug hielt, und riss das Lenkrand herum, worauf der Wagen unter empörtem Aufheulen des Motors Richtung Prospekt fuhr.

»Welchem Halbidioten habt ihr denn die Karre abgenommen?«, fragte ich.»Bei diesem Wetter…«

»Ts, ts«, kicherte Ilja.»Boris Ignatjewitsch hat dir sein Automobil geliehen.«

»Echt?«, fragte ich und drehte mich um. Zur Arbeit kam der Chef im Dienst-BMW. Diesen Hang zu unpraktischem Luxus hatte ich bislang bei ihm nicht bemerkt.

»Echt. Wie hast du das geschafft, Antoschka?«Ilja machte eine Kopfbewegung zu dem über dem Haus aufragenden Wirbel hin.»Solche Fähigkeiten sind mir bei dir noch gar nicht aufgefallen!«