Die Armbrust entglitt Galars kraftlosen Händen.
»Das war wie in einer der alten Sagas!«, rief Hornbori begeistert.
Der Schmied blickte zu seinem Gefährten auf. »Ich werde dich wohl nicht mehr Schisser nennen …«
Sein Gefährte grinste.
»Nicht deshalb …« Galar kniff die Augen zusammen. Alles verschwamm vor seinem Blick. »Ich glaube, ich verblute.«
Wenn Boten bei Nacht kommen
Shaya fühlte sich einsam inmitten des turbulenten Festes. Kurunta war zurückgekommen und hatte die Pferde gebracht. So viele Pferde. Noch nie war ein solcher Brautpreis gezahlt worden. Tausend Pferde aus den königlichen Ställen Luwiens.
Die Seitenwände der Sternenjurte waren aufgerollt, sodass man von weit her ins Innere des hell erleuchteten Zeltes blicken konnte. Auch das hatte es noch nie zuvor gegeben! Bislang hatte ihr Vater, der Unsterbliche Madyas, immer ein großes Geheimnis darum gemacht, wie es in seinem Palastzelt aussah, und in die Sternenjurte geladen zu werden war die höchste Auszeichnung gewesen, die man im Reich der Ischkuzaia erlangen konnte. Wer diese prächtige Jurte betreten durfte, der gehörte zum Inneren Kreis des Hofes.
Aber heute war alles anders.
Ihr Vater hatte vor seinem Zelt eine riesige Koppel einrichten lassen, in der in langen Reihen angepflockt die neuen Rösser standen. Es waren große Tiere. Ihr Stockmaß lag um zwei Handbreit und mehr über dem der Steppenpferde. Seit dem Morgen schon zogen die Bewohner des Wandernden Hofs an ihnen vorüber und bestaunten die prächtigen Tiere. Shaya hätte stolz sein sollen.
Stattdessen fühlte sie sich von allem seltsam entrückt. Sie gehörte hier nicht mehr hin. Ihr Vater hatte den ganzen Tag kein Wort mit ihr gesprochen. Er hatte nur Augen für die Pferde gehabt. Wie vereinbart war Kurunta, der Hüter der Goldenen Gewölbe, mit zwölfhundert Pferden gekommen. Und es war kein einziges darunter gewesen, das nicht voller Kraft und Anmut war. Edel im Wuchs und mit stolzem Gebaren, begannen die Tiere doch unruhig zu werden. Zu lange wurden sie nun schon angegafft. Zu viele Menschen tummelten sich um sie herum, und zu fremd klang das Lärmen des Festes in ihren Ohren. Dazu kamen noch der Geruch nach Blut und das Blöken der Hammel, die an diesem Festtag geschlachtet wurden. Die Pferde aus Luwien schnaubten, scharrten mit den Hufen in der schlammigen Erde. Immer wieder warfen einzelne den Kopf in den Nacken und keilten aus.
In ihrem Volk gab es keinen, der nicht mit Pferden groß geworden war, dachte Shaya ärgerlich. Sie alle hätten sehen müssen, dass nicht gut war, was dort geschah. Die Tiere brauchten Ruhe. Sie waren gestern über einen der goldenen Pfade, die sich durch die Dunkelheit zwischen den Welten spannten, getrieben worden. Sie hatten genug Schrecken erlebt. Was sie brauchten, war eine stille Weide, irgendwo in den Bergen, und nicht den Trubel des Wandernden Hofes.
Aber die Krieger und Höflinge überboten sich gegenseitig, in Anwesenheit ihrer Weiber ihren Mut zu zeigen, indem sie auf die großen Pferde zugingen, ihre Nüstern tätschelten und ihnen auf den Hals klopften. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Unglück geschehen würde.
Eine Gruppe halb nackter Tänzerinnen wirbelte zum Klang von Trommeln, Beinflöten und Zimbeln im Kreise, angefeuert vom betrunkenen Kurunta. Der Botschafter mit den hässlichen Brandnarben saß wieder inmitten von Lustsklavinnen und betatschte sie schamlos in aller Öffentlichkeit. Würde das auch ihr Schicksal sein? Eine Hure Muwattas zu werden, gedemütigt vor versammeltem Hofstaat durch dessen zügellose Begierden? Sie zwang sich, den Blick nicht von dem Botschafter zu wenden und von den Frauen mit den leeren Augen und dem falschen Lachen. Würde sie es schaffen, sich selbst so fremd zu werden, dass sie dies ertrug? Sie hatte ihrem Volk gut gedient. Bald schon würden die Pferde als Geschenke weit über die Steppe verteilt werden. Ihr Blut würde sich mit dem der kleineren, drahtigen Rösser ihres Volkes mischen, und es würde eine neue Rasse ausdauernder, schöner Pferde entstehen. Sie würden noch über die endlosen Weiden Ischkuzas ziehen, wenn sie selbst längst in Vergessenheit geraten war. Wer hatte ihrem Volk je ein solches Geschenk gemacht? Was zählte da ihr Schicksal! Sie sollte stolz sein. Aber sie vermochte es nicht.
Die Musik in der Sternenjurte verebbte, und die Tänzerinnen zogen sich zurück, begleitet von anzüglichen Angeboten. Vielleicht sollte sie mit einer von ihnen reden? Sie wussten gewiss, wie es war, bei einem Mann zu liegen, den man nicht liebte.
Shaya bemerkte, wie viele junge Reiterführer ihr Vater in sein Zelt geladen hatte. Männer, die nichts von dem wussten, was man ihr angetan hatte.
Die große Trommel wurde in die Jurte getragen. Der Anblick versetzte ihr einen Stich. Sie war aus rot lackiertem Holz gefertigt. Das fleckige Fell, mit dem sie bespannt war, maß fast anderthalb Schritt. Auf dieser Trommel hatte sie einst für ihren Vater getanzt. Vor unendlich langer Zeit, wie es ihr nun erschien.
Ein junges Mädchen trat zwischen den Leibwachen des Unsterblichen Madyas hervor. Ihr Haar war zu Dutzenden Zöpfen, dünn wie Peitschenschnüre, geflochten. Ein wenig blass sah sie aus. Ihre Augen standen sehr schräg. Wahrscheinlich war ihre Mutter irgendeine Prinzessin vom Seidenfluss. Shaya erinnerte sich dunkel, die Kleine früher schon einmal gesehen zu haben. Ihren Namen hatte sie vergessen. Nachdem sie selbst in Ungnade gefallen war, hatte es sie nicht mehr interessiert, wer künftig der Liebling ihres Vaters sein würde. Sie selbst war die siebenunddreißigste Tochter des Unsterblichen. Wie viele es inzwischen waren, wusste sie nicht. Es gab Gerüchte, dass Töchter, die nicht unter einem günstigen Stern geboren wurden oder nur den geringsten Makel in den Augen des Madyas aufwiesen, an seine Jagdhunde verfüttert wurden. Gerüchte … Davon gab es immer viele am Wandernden Hof. Die Zählung der Söhne jedenfalls lag bei über hundertdreißig. Vielleicht stimmte das Gerücht? Oder der Samen des Unsterblichen war so stark, dass ihm weit öfter Söhne als Töchter geboren wurden. Sie selbst war ja ein Mannweib geworden. Vielleicht lag auch das am Samen ihres Vaters? Sie lachte bitter. Nein, unter seinen Töchtern nahm sie eine besondere Stellung ein. Ihre Schwestern waren nicht so wie sie.
Das kleine Mädchen wurde auf die Trommel gehoben. Sie trug eine weite, rote Reithose und eine mit silbernen Seidenfäden bestickte, ärmellose Weste.
Shaya schüttelte den Kopf. Das war … als ob sie in die Vergangenheit blicken würde. Auch sie hatte so eine Weste getragen, als sie für ihren Vater auf der Trommel getanzt hatte.
Die Kleine stampfte fest mit dem Fuß auf, und ein dunkler Ton erklang. Alle Gespräche in der Sternenjurte verstummten. Jeder wusste, das Mädchen tanzte jetzt nur für den Unsterblichen Madyas und den Weißen Wolf. Früher hatte ihr Volk diese Trommel benutzt, um den Wolf zu rufen, ihren Beschützer, den wahren Herrscher der weiten Steppen.
Shaya erinnerte sich noch so gut. An die vielen Stunden, die sie auf dem festen Holzboden der Sternenjurte den Tanz geübt hatte. Die sicheren, stampfenden Schritte. Die Hüpfer, die sie immer weiter in die Höhe hoben. Ihre Arme mal vor der Brust verschränkt, dann wieder weit ausgestreckt, als sei sie ein Vogel, der sich mit ausgebreiteten Schwingen in die Lüfte erheben wollte.
Sie erinnerte sich an die gestrenge Stimme ihrer Lehrerin. An ihre Aufregung, als sie zum ersten Mal vor dem ganzen Hof auf der Trommel getanzt hatte. Ihre Angst, einen Fehler zu machen, und ihren unbändigen Stolz, als ihr Vater sie zuletzt von der großen Trommel gehoben hatte, um sie fest in die Arme zu schließen und an sich zu drücken. Heiße Tränen rannen ihr über die Wangen.
Ihre kleine Schwester, deren Namen sie nicht einmal kannte, machte ihre Sache gut. Sie hatte ihren Rhythmus gefunden, und der Hall der riesigen Trommel trug weit in die Nacht hinaus. Auch vor der Sternenjurte waren jetzt alle verstummt und lauschten der Trommel. Nur die luwischen Pferde waren noch unruhig, schnaubten und starrten mit weit aufgerissenen Augen.