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Shaya wandte sich ab. Die Vergangenheit war tot. Die Tage, an denen sie auf der Trommel getanzt hatte, waren vorüber. Die Tage, an denen der ganze Hof zu ihr aufgeblickt hatte. Sie gehörte hier nicht mehr hin. Sie war eine Ausgestoßene, auf jede nur denkbare Art. Das narbenbedeckte Mannweib, die unberührbare Braut eines Unsterblichen. Sie nur anzusprechen mochte schon den Tod bringen. Und wer sollte noch etwas von ihr wollen? In ein paar Stunden würde Kurunta sie mit sich nehmen.

Shaya stieg von dem hölzernen Podest herab, auf dem die Sternenjurte stand. Sie hatte einen schwarzen Umhang um ihre Schultern gelegt, um das mit Türkisen geschmückte, viel zu enge Brautkleid zu verbergen, in dem sie früher am Abend dem Gesandten vorgeführt worden war. Es drückte ihre kleinen Brüste hoch und war tief ausgeschnitten. Ein Vorgeschmack darauf, was sie in Luwien erwartete.

Auch ihr hatten sie das Haar zu vielen kleinen Zöpfen geflochten wie ihrer Schwester, die auf der Trommel tanzte.

Sie schob sich zwischen den Schaulustigen hindurch. Man machte ihr Platz. Sie hielten sie für irgendeine Hofdame. Jemanden von Bedeutung.

Shaya wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Sie hatte am Hof keine Freunde. Es gab keinen Ort mehr für sie außer ihrer bewachten Jurte, und dorthin wollte sie nicht in dieser letzten Nacht in Freiheit.

Die stampfenden Füße der Prinzessin schlugen immer schneller auf das Trommelfell. Shaya blickte zurück. Sie war eifersüchtig. Das war ein Wesenszug, den sie an sich noch nicht gekannt hatte.

Im Gewühl winkte ihr jemand zu. Eine zierliche Gestalt in grünem Seidenmantel. Der Heiler vom Seidenfluss. Er hatte weit mehr Mühe als sie, sich durch die Menschenmenge zu schieben. Er war unübersehbar ein Fremder. Vor ihm hatte man keinen Respekt. Shaya überlegte kurz, ob sie sich davonmachen sollte. Aber wohin? Sie sollte sich anhören, was er wollte.

Als er endlich bis zu ihr vorgedrungen war, hatte seine Würde ein wenig gelitten. Die breite Bauchbinde, die den Mantel verschloss, war leicht verrutscht. Der seltsame, schwarze Lederwürfel, den er über seine zu einem Dutt hochgesteckten Haare gestülpt hatte, saß leicht schief, und sein dünner Bart war zerzaust. Etwas außer Atem verneigte er sich knapp. Nicht zu tief, um kein Aufsehen zu erregen.

»Es ist schön, dass ich Euch gefunden habe, meine Dame.«

»Warum?« Sie war ihm dankbar, dass er sie nicht mit ihrem Titel angesprochen hatte. Dennoch verspürte sie keine allzu große Lust, sich mit ihm abzugeben. Am liebsten hätte sie ihre Krieger aus Nangog um sich geschart und mit ihnen gezecht. Jene tapferen Draufgänger, die mit ihr über die Himmel der Neuen Welt gesegelt waren und die Wunder gesehen hatten, die sich die einfachen Hirten nicht einmal vorstellen konnten.

»Ich habe Euch schon früher am Abend beobachtet, teure Dame. Ihr wirktet …« Er stockte, sah sie zweifelnd an. Er hatte bemerkt, in welcher Stimmung sie war und dass sie ihn fortschicken würde, wenn er jetzt die falschen Worte wählte. »Ihr wirktet verloren, meine Dame. Ihr erschient mir genauso fremd wie ich an diesem Hof.«

Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Vielleicht war es besser, ihm ein wenig ihrer Zeit zu schenken, statt ziellos bis zum Morgengrauen durch das Lager zu streifen.

»Erscheint dir die Annahme nicht abwegig, dass ich an dem Ort, an dem ich geboren wurde, eine Fremde sein könnte?«

»Nun, werte Dame, ohne abfällig klingen zu wollen, aber mir erschien es so, als sei die Schar der Freunde, die Euch umringt, durchaus um ein weniges geringer als die Zahl der Blüten, die ein Pfirsichbaum in seinem allerersten Frühling trägt.«

Aus Shayas zaghaftem Lächeln wurde ein Grinsen. »Womöglich habe ich sie fortgeschickt, um meinen letzten Abend hier allein mit meinen Erinnerungen zu verbringen.«

Der Heilkundige nickte ernsthaft. »Womöglich haben auch jene Wilden in den Bergen von Garagum recht, die glauben, dass es keine Sterne gibt, sondern einer ihrer Berggötter an jedem Abend seinen schwarzen Umhang vor der Sonne aufspannt. Und jene Lichter, die wir irrtümlich Sterne nennen, stammen von Löchern, die Pfeile in seinen Umhang geschlagen haben, denn die Götter Garagums sind alle kriegerisch. Auch wenn die Weisen meines Volkes solche Geschichten milde belächeln, so möchte ich den Wilden doch zumindest aus rein poetischer Betrachtung recht geben. Diese Erklärung für die Sterne am Firmament ist zu schön, um nicht wahr zu sein.«

»Deutest du gerade an, dass ich, rein poetisch betrachtet, vorhin die Unwahrheit über meine zahlreichen Freunde gesagt haben könnte?«

Er blickte in gespielter Entrüstung auf. »Ich bin entsetzt, wenn Ihr mich so verstanden habt, werte Dame. Es muss wohl daran liegen, dass sich meinem bescheidenen Verstand die Feinheiten Eurer … bestechend einfach und folgerichtig strukturierten Sprache noch immer nicht erschlossen haben.«

»Ich habe entschieden, mir ein wenig Zeit zu nehmen, um auszuloten, wo bei dir die Grenzen zwischen abgründigem Humor und abgrundtiefer Verachtung für mein Volk liegen.«

Der Heiler gestattete sich den Anflug eines Lächelns. »Ihr wollt mich ausloten, erhabene Dame? Es ist mir ein Vergnügen, Euer Diener zu sein. Allerdings sollten wir uns vielleicht einen ruhigeren Ort suchen, um unser Gespräch fortzusetzen. Mir scheint, wenn diese Prinzessin aufhört, die Trommel mit ihren Füßen zu bearbeiten, dann wird es hier wieder recht laut und ungemütlich werden.«

Sie nickte. »Gehen wir.«

»Wenn es Euch vielleicht belieben würde, sich mit mir in die Rote Jurte zu begeben? Ich denke, am heutigen Abend werden wir dort völlig ungestört sein.«

Shaya war erstaunt, dass er diesen Ort wählte. Obwohl er sie dort an einem Tag voller Schrecken wieder zur Jungfrau gemacht hatte, hatte die Rote Jurte nichts von ihrer alten Faszination für sie verloren. Sie war seitdem mehrmals dort gewesen, um die alten Karten zu betrachten und ihren Träumen und Erinnerungen nachzuhängen. »Was mein Vater wohl sagen würde, wenn er hören könnte, dass du mich an einen Ort einlädst, an dem du ganz sicher ungestört mit mir bist?«

Er ging darauf nicht ein, sondern wies mit formvollendeter Geste in die Richtung, in der das Kartenzelt lag. »Wenn Ihr vielleicht vorangehen mögt, edle Dame? Euch erweist man Respekt, und man weicht Euch aus. Ich hingegen werde mich beeilen, Euch dichtauf zu folgen, bevor die Menschenfluten hinter Euch wieder zusammenfließen.«

Sie war ein wenig überrascht über die für Ischkuzaia zwar immer noch überaus umständliche, für einen Weisen vom Seidenfluss aber schon fast unhöflich direkte Aufforderung, sich mit ihm in die Jurte zu begeben. Ein Umstand, der sie nur umso neugieriger machte. Sie war dankbar, von ihren melancholischen Gefühlen abgelenkt zu sein, und ging ohne Umschweife zur Roten Jurte, die ein gutes Stück entfernt vom Palastzelt lag. Weit genug, dass der Jubel, der nach dem Trommeltanz folgte, nicht allzu sehr störte. Wie erwartet, war die Jurte verlassen. Shaya kniete sich vor einen niedrigen Tisch und entzündete zwei Öllampen, während der alte Heiler sich im Sitz der Himmelsblume niederließ.

»Ich danke Euch für Euren Großmut, mir an Eurem letzten Abend hier ein wenig Eurer kostbaren Zeit zu schenken, Prinzessin Shaya.«

Sie quittierte den Dank mit einem kurzen Nicken.

Der Heiler blickte eine Weile in die Flamme einer der beiden Lampen. Seine Züge wurden weicher. Er atmete tief und regelmäßig. Es schien, als sei er eingeschlafen. Shaya wollte ihn schon ansprechen, als er von sich aus zu reden begann. »Es erfüllt mich mit tiefer Scham, welche Rolle ich bei der Schließung der Pforte zu Eurem geheimen Garten spielte. Obwohl ich in meinem Leben so manche Pforte verschlossen habe, geschah dies bislang doch stets auf Wunsch von Damen, die Ungemach vermeiden wollten. Doch was sollte ich tun, nachdem dringliche Boten Eures Vaters zu meinem Haus kamen? Sie überreichten mir ein Pergament mit dem Siegel des Unsterblichen Madyas, in dem mir befohlen wurde, mich unverzüglich in der Wandernden Stadt einzufinden. Ich war wie die Maus, die bereits im Maul der Katze steckt. Mein Leben war verwirkt. Ungewiss war allein, wie viel Zeit bis zur Stunde meines Todes bleiben würde.«