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Sein Gesicht war ein Spiegel seiner Seelenqual. Und doch erschien Shaya die Geschichte seltsam. Sie glaubte zwar nicht, dass der alte Mann sie anlog, aber was er sagte, erschien ihr nicht schlüssig. »Warum gingst du davon aus, in Gefahr zu sein? Es ist doch eine Ehre, an den Wandernden Hof gerufen zu werden. Mein Vater versammelt hier nur die Besten einer jeden Zunft, Shen Yi Miao Shou.«

Er seufzte. »Es waren die Umstände, scharfsinnige Prinzessin, die mein Herz mit Angst erfüllten. Die Boten kamen in aller Heimlichkeit inmitten der Nacht. Und obwohl sie einen Brief mit dem Siegel des Unsterblichen bei sich trugen, waren sie gewandet wie einfache Reisende. Und sie bestanden darauf, dass ich noch in ebenjener Nacht mit ihnen käme, ohne Aufsehen zu erregen. Mir blieb gerade noch die Zeit, mich mit meinem ältesten Sohn zu besprechen und ihm aufzutragen, meine Familie an einen Ort zu bringen, an dem niemand uns kennt. Und ich schärfte ihm ein, nie wieder in unsere Heimatstadt zurückzukehren. Danach kehrte ich zu den Boten zurück. Sie erlaubten mir nur, zwei Taschen mit meinen Nadeln und Messern und einigen der wichtigsten Tränke, Tinkturen und Kräuter mitzunehmen. Ich durfte nicht einmal in einer geschlossenen Sänfte reisen, wie es einem Mann meines Standes geziemt, und weder meine Leibsklaven noch meinen hochgeschätzten Koch durfte ich mitnehmen.«

Shaya musste sich beherrschen, um nicht zu schmunzeln. Ganz offensichtlich war dem Alten nicht bewusst, dass es bei den Ischkuzaia selbstverständlich war, dass selbst höchste Würdenträger ohne Sklaven und andere Annehmlichkeiten reisten. »Bei allem Respekt, Shen Yi Miao Shou, halte ich deine Vorsicht doch für übertrieben. Warum sollte deine Familie in Gefahr sein, wenn selbst du nicht wusstest, aus welchem Grund du zum Wandernden Hof gerufen wurdest?«

Shen Yi strich sich über seinen dünnen Bart. »In meinem Volk sagt man: Es stirbt die Taube, auf die der Schatten des Adlers fällt. Der Schatten deines Vaters ist auf mein Haus gefallen. Ich wurde in eines der großen Geheimnisse seines Hofes hineingezogen, verehrte Prinzessin, und meine Familie mit mir. Am Seidenfluss sind die Herrscher sehr darauf bedacht, dass kein Licht in die tiefen Schatten ihrer Fürstenhöfe fällt. Allein vielleicht zu wissen, wohin ich gehe, genügt, um des Todes zu sein. Denn da meine Fähigkeiten wohlbekannt sind, könnte, wer immer davon erfährt, wohin man mich gebracht hat, erraten, was ich dort tun würde. Insbesondere in Verbindung mit Eurer unmittelbar bevorstehenden Hochzeit, verehrte Prinzessin. Ein Fürst aus meinem Lande würde ohne zu zögern den Tod meiner ganzen Familie befehlen. Und ich bin überzeugt, dass Euer Vater in den vielen Jahrzehnten seit der Eroberung der Königreiche am Seidenfluss nicht nur unsere kostbaren Stoffe schätzen lernte, sondern auch die Art, wie unsere alten Herrscher dachten.«

Auch Shaya hatte sich im Sitz der Himmelsblume niedergelassen. Sie blickte dem Alten geradewegs in seine dunklen Augen. »Das Volk der Steppe ist einfacher in den Dingen, die es tut. Intrigenspiele sind nicht unsere Sache.«

Shen Yi bedachte sie mit einem milden, väterlichen Lächeln. »Nicht? Dann bitte ich Euch, einige der Ereignisse der letzten Tage zu bedenken. Wer war zugegen, als … als Euer Zustand begutachtet wurde? Euer Vater, einer Eurer Brüder, zwei Beschnittene und eine Gruppe alter Männer, die allesamt seit vielen Jahren Vertraute des Unsterblichen sind.«

Die Erinnerung an diese Nacht trieb ihr das Blut in die Wangen. »Und?«, fragte sie kühl, vor allem über sich selbst verärgert, weil der Heiler ihr so deutlich ansehen konnte, wie unangenehm ihr das Thema war. Ihre Zurschaustellung vor den Würdenträgern des Hofes wog für sie im Nachhinein wesentlich schwerer als die ungewollte Wiederherstellung der Pforte zu ihrem geheimen Garten, wie Shen Yi es so bildhaft nannte.

»Kurz nach diesem Ereignis wurden die beiden Eunuchen, die diesem Hof ein Leben lang treu gedient hatten, eines schändlichen Diebstahls überführt, über den sie selbst im Angesicht des Todes, da sie nicht nur ihre Männlichkeit, sondern auch ihre Zungen verloren hatten, nicht mehr Zeugnis ablegen konnten. Findet Ihr dieses Zusammenspiel von Ereignissen nicht auch ein wenig ungewöhnlich, scharfsinnigste Tochter des Unsterblichen Madyas?«

Sie war nicht sicher, ob sie seine Komplimente annehmen sollte oder ob sich ein versteckter Spott dahinter verbarg. Der Zweifel spornte sie an, sich auch einmal eines der Sinnsprüche aus der Muttersprache des Heilers zu bedienen. »Sagt dein Volk nicht: Das Leben ist wie ein Fluss, es strömt nie auf dem kürzesten Wege zum Meer, sondern ist voller seltsamer Wendungen?«

Er neigte sanft das Haupt. Eine Geste der Anerkennung?

»Mein Volk sagt auch: Wer die Drossel Äste sammeln sieht, muss ihr Nest nicht schauen, um zu wissen, welchem Zweck ihr Tagwerk dient. Ich würde Euch zustimmen, Prinzessin, wäre nicht vor drei Tagen einer der Berater des Unsterblichen bei einem Sturz vom Pferd ums Leben gekommen und ein weiterer heute angeblich den Anstrengungen einer Liebesnacht mit zwei jungen Konkubinen erlegen. Bald wird das Geheimnis um Euch nur noch innerhalb Eurer Familie bewahrt werden.«

Shaya hatte über den Liebestod tratschen hören. Von dem Reitunfall wusste sie nichts. »Du glaubst, dass auch du ermordet werden wirst?«

»Ich bin mir sicher, werte Prinzessin. Ich wusste es, als ich mein Haus verlassen hatte, um mich den Boten Eures Vaters anzuvertrauen. Mein Werk ist verrichtet. Mein Leben birgt keinen Nutzen mehr für den Unsterblichen. Mein Ableben hingegen schon. Doch ich bin nicht hier, um zu klagen. Ich wollte mit Euch über Eure Zukunft sprechen, ehrenwerte Shaya, und ich wollte Euch meine Hilfe anbieten.«

Der Alte erstaunte sie, und Shaya fragte sich, ob er noch klar bei Verstand war. »Wie willst du mir helfen, wenn du davon ausgehst, den Wandernden Hof nicht mehr lebend zu verlassen?«

»Durch meine Erfahrung, verehrte Prinzessin. Allerdings müsstet Ihr mir vertrauen. Mir ist durchaus bewusst, worum ich bitte, ist mein Volk doch unter dem deinen als intrigant und rachsüchtig verschrien.« Er atmete schwer aus und wirkte plötzlich, als koste es ihn Mühe, noch länger den Gleichmut zu wahren. »Ich weiß um das, was Euch erwartet. Eine Hochzeit, die nicht aus Liebe geschlossen wurde. Eine Nacht … wie sie nie eine Frau erleben sollte.«

Shaya stand auf. Das war das Letzte, worüber sie reden wollte. Und schon gar nicht mit dem Mann, der es möglich gemacht hatte, dass die Heilige Hochzeit stattfinden konnte, obwohl sie keine Jungfrau mehr war.

»Bitte, Prinzessin. Der Ruf meiner Kunstfertigkeit brachte mir den Besuch mancher Dame ein, der mit Gewalt geraubt worden war, was nur in Liebe geschenkt werden sollte. Einige der Damen haben mit mir über ihre Erfahrungen gesprochen. Ich vermag das Unheil, das Euch erwartet, nicht abzuwenden, doch wenn Ihr meinem Rat folgt, dann wird der Schaden, den Ihr an Körper und Seele nehmt, ein geringerer sein. Ich bitte Euch zu bleiben, verehrte Prinzessin. Ich bin ein Freund.«

Shaya zögerte. Sie sah den zerbrechlichen alten Mann nachdenklich an. Was bewegte ihn? Und was hatte sie schon zu verlieren? »Warum solltest du mir helfen wollen? Mein Vater hat dein Volk unterworfen, er hat deine Familie zerstört, und vielleicht wird er dich bald ermorden lassen. Warum solltest du mir helfen wollen?«

»Weil ich aus tiefstem Herzen Männer verabscheue, die Frauen Gewalt antun. Ein Leben lang habe ich gesehen, was ihre Taten anrichten. Zu oft vermochte ich das Fleisch zu heilen, doch konnte ich die Wunden der Seele nie wieder verschließen. Man kann auch an solchen unsichtbaren Wunden sterben, meine Prinzessin. Es ist ein langer, unsäglich trauriger Tod.«

Shaya spürte, wie sich in ihr etwas zusammenzog. Sie fürchtete die Nacht der Heiligen Hochzeit, auch wenn sie, seit sie davon wusste, versuchte, es vor sich selbst zu leugnen. Der Gedanke, dass in dieser Nacht alles Schöne, das sie mit Aaron erlebt hatte, zerstört würde, machte ihr Angst. Nur darum ging es. Ihr Glück und das von Aaron zu vernichten.