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Sie ging zurück und setzte sich Shen Yi Miao Shou gegenüber. »Was kannst du mich lehren?«

»Ihr könnt dieser Nacht entfliehen. Nicht körperlich, aber es liegt in Eurer Macht, Eure Seele vor dem Unsterblichen Muwatta zu retten. Ich will Euch die Kunst lehren, Eure Seele abzuschirmen gegen das Böse. Seht in die Flamme der Öllampe dort!«

Shaya gehorchte.

»Denkt an etwas Schönes. An einen Spaziergang an einem See im Frühling. An das Funkeln des Wassers im Sonnenlicht. Streift alles andere ab, bis Ihr nur noch diesen einen Gedanken in Euch tragt, er Euch ganz und gar ausfüllt und Ihr Euren Körper nicht mehr fühlt. Lasst Euch hinforttragen von schönen Erinnerungen. Verweigert Euch dem Hier und Jetzt.« Shen Yi sprach mit ruhiger, einfühlsamer Stimme.

Seine Worte berührten eine tief in ihr begrabene Sehnsucht. Sie dachte nicht an einen See. Sie gab sich ganz der Erinnerung an Aaron hin, an ihre wenigen gestohlenen Nächte auf dem Rücken des Wolkensammlers, hoch im Himmel, nah bei den Sternen und den Zwillingsmonden von Nangog.

»Seid dort«, riet die weiche Stimme Shen Yis, »wenn sie Euch in den Tempel bringen. Verweigert ihnen Eure Seele und lasst alles andere über Euch ergehen. Alles Fleisch ist vergänglich, doch Eure Seele ist ewig. Jene Männer, die Gefallen daran finden, Frauen Gewalt anzutun, weiden sich am Schrecken ihrer Opfer und an ihren Schreien. Liegt Ihr ganz ruhig und lasst es über Euch ergehen, beraubt Ihr sie ihres kranken Vergnügens. Es wird dann schneller vorüber sein. So schrecklich es auch immer noch ist …«

Shen Yis Stimme klang wie von weit fort, obwohl er ihr gegenübersaß. Shaya fühlte sich leicht. Sie dachte daran, wie sie für Aaron über den Wolken getanzt hatte, klammerte sich ganz und gar an diesen glücklichen Augenblick. Fast glaubte sie den Wind wieder auf ihrem Gesicht zu spüren. Sie war weit fort …

»Wenn Ihr ein Licht seht, Shaya, dann kommt ihm nicht zu nahe. So verlockend es ist, dies ist ein Ort ohne Wiederkehr. Wenn Ihr dorthin geht, gebt Ihr für immer Eure fleischliche Hülle auf.«

Sie blickte zu den Zwillingsmonden auf. Ihr klares Licht schien sie einzuladen. Aber sie wollte bei Aaron sein. Stellte sich vor, wie sie in seinen Armen gelegen hatte.

»Ihr könnt noch tiefer in Trance fallen. Erwachen werdet Ihr, sobald Ihr berührt werdet und Licht auf Euer schönes Antlitz fällt. Doch nun folgt meiner Stimme. Ich werde langsam von hundert rückwärts zählen. Und mit jeder Zahl kommt Ihr dem völligen Frieden einen Schritt näher.«

Shaya hielt an dem Bild der Zwillingsmonde fest. Die monotone Stimme Shen Yi Miao Shous machte sie müde. Es war tatsächlich so, wie er gesagt hatte. Sie fühlte sich entrückt von ihrem Körper. Sie war nicht mehr wirklich hier. Irgendwo zwischen ihren Träumen von Nangog und der Wirklichkeit hatte sie einen sicheren Ort gefunden, zu dem kein Schmerz und kein Kummer vordringen konnten.

Doch dann hörte Shen Yi Miao Shou auf zu zählen. Und er nutzte ihre Trance entgegen seiner Versprechen. Er sprach von Dingen, die ihr völlig fremd waren. Füllte ihren Kopf mit seinen Träumen und Gedanken, und sie hatte keine andere Wahl, als sich vom Strom der Worte gefangen nehmen zu lassen, die sie immer weiter fort von Nangog und Aaron trugen.

Das Haus des Himmels

»Hier ist sie. Ganz wie ich dir gesagt habe, Kurunta. Sie ist schon als Kind oft hierhergekommen.«

Helles Morgenlicht fiel auf Shayas Gesicht. Sie blinzelte benommen. Ein stechender Schmerz nistete hinter ihrer Stirn, dicht über ihren Augenbrauen.

»Was hat der Alte mit ihr gemacht? Wie kann sie es wagen, die ganze Nacht allein mit einem Mann zu verbringen? Das ist unerhört! Sie sollte …«

»Mäßige dich, Kurunta! Erinnere dich, mit wem du sprichst! Nutze deinen Verstand zu deuten, was deine Augen dir zeigen, bevor deine Zunge Unrat verbreitet. Ich könnte mich sonst gezwungen sehen, deine Zunge getrennt von dir in einem goldenen Kästchen zurück zu deinem Herrn zu schicken.«

Shaya blickte verwundert auf Shen Yi Miao Shou. Der alte Heiler saß unmittelbar vor ihr im Sitz der Himmelsblume. Er hatte ihre Hände in die seinen gelegt. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, doch seine Augen waren leer, die fleckigen, alten Finger kalt. Er war tot.

Vorsichtig zog Shaya ihre Hände zurück. Sie erinnerte sich an die Zwillingsmonde von Nangog. Und an die Warnung des Alten, dem Licht nicht zu nahe zu kommen. Wie es schien, war er ganz bewusst diesem Licht entgegengegangen, um ihrem Vater das grausame Vergnügen zu rauben, einen demütigenden Tod für ihn zu wählen.

»Was ist hier geschehen, Shaya?«

Sie blickte trotzig zum Unsterblichen Madyas auf. »Er hat mir Gedichte vom Seidenfluss vorgetragen, damit ich die Schönheit der Liebe nicht vergesse, obwohl ich versteigert wurde wie eine Stute auf dem Pferdemarkt.«

Madyas’ Schlag kam ohne Vorwarnung. Er traf sie mit solcher Wucht, dass sie zu Boden gerissen wurde. Ihre Wange brannte, doch stärker noch schmerzte die Verachtung in seinen Augen.

»Junge Stuten brauchen manchmal die Gerte, Kurunta. Ich bin sicher, du weißt das. Sie gehört nun dir. Ich möchte sie nie wieder sehen noch je von ihr hören. Ich habe keine Tochter mehr, die Shaya heißt.« Der Unsterbliche wandte sich abrupt ab und verließ die Rote Jurte.

Der hässliche Unterhändler sah mit einem grausamen Lächeln auf sie hinab. »Es gibt Möglichkeiten, jemandem sehr wehzutun, ohne dass es Spuren hinterlässt. Ich werde dich gerne in dieser Kunst unterrichten, wenn du mich dazu herausforderst. Wir verlassen in einer Stunde das Lager. In deiner Jurte sind Reitgewänder bereitgelegt. Ich wünsche, dass du dich umgehend ankleidest und dort wartest. Du wirst heute noch eine sehr weite Reise machen, Prinzessin.«

Kurunta rief zwei Wachen hinein, die Shaya aufhalfen. Ihre Beine waren wie tot. Sie hatte zu lange im Sitz der Himmelsblume verweilt. Sie konnte sich nicht ohne Hilfe aufrecht halten.

»Bringt sie in ihr verdammtes Zelt«, herrschte Kurunta die Wachen an. »Und sorgt dafür, dass ihre Dienerinnen sie ankleiden!«

Die beiden Wachen, die ohne Zweifel auch die Worte ihres Vaters gehört hatten, packten sie grob bei den Armen und nahmen sie in ihre Mitte. Sie trugen sie halb, halb humpelte sie, gebückt wie ein altes Weib.

Shaya hielt ihr Gesicht gesenkt. Sie würde niemanden hier je wiedersehen, es sollte ihr gleichgültig sein, was man bei Hof von ihr dachte. In den Tagen, die sie hier gewesen war, hatten ihre Geschwister es tunlichst vermieden, mit ihr Umgang zu haben. Auch die wenigen Freunde ihrer Kindheit waren ihr aus dem Weg gegangen. Alle wussten, dass sie ihrem Vater nichts mehr galt, und wer in Verbindung mit ihr stand, der lief Gefahr, ebenfalls das Missfallen ihres Vaters zu erregen. Und dennoch glühten ihre Wangen vor Scham, als sie so zu ihrer Jurte gezerrt wurde.

Hatte Shen Yi Miao Shou das vorhergesehen? War es Teil seiner Rache an den Ischkuzaia, die sein Volk unterjocht hatten? Ihm musste klar gewesen sein, dass sie nicht würde laufen können, wenn sie die ganze Nacht im Sitz der Himmelsblume gesessen hatte. Er hatte gewiss geahnt, dass sie auf diese schändliche Weise in ihre Jurte gebracht wurde. Und was hatte er ihr noch gesagt? Sie war sich dunkel bewusst, dass er Stunden auf sie eingeredet hatte. Seine Stimme hatte sie aus ihren Wolkenträumen gezerrt. Welche giftige Saat hatte er in ihr Gedächtnis gepflanzt? Sie konnte sich nicht erinnern!

Shaya verfluchte sich dafür, Shen Yi Miao Shou vertraut zu haben. Wie hatte sie nur so dumm sein können! War es ihre Sehnsucht nach einem väterlichen Freund gewesen? Einem Mann, der ihr den Vater ersetzte, den sie so lange schon vermisste?

In ihrer Jurte erwarteten sie drei Dienerinnen, die wortlos damit begannen, sie auszukleiden. Shaya ließ es ohne Gegenwehr über sich ergehen. Ihr Haar wurde geölt und gekämmt. Sie wurde mit feuchten Tüchern abgetupft und unter den Achseln und im Schritt mit Rosenöl benetzt. Dann zog man ihr eine weite Hose aus weißer Seide an. Darüber ein Hemd und dann ein weites, seitlich geschlitztes Kleid. Beides mit rosa schimmernden Perlen bestickt. Die Gewänder waren kostbar, doch entsprachen sie ganz und gar nicht ihrem Geschmack. Die Frauen legten ein Seidentuch über ihr Haar und befestigten es mit langen Nadeln. Eine Maske aus steifem Stoff, von innen mit Seide unterfüttert, wurde auf ihr Antlitz gelegt und festgesteckt. Dann folgte ein durchscheinender Schleier, der die Maske verdeckte. So war es also, Muwatta zu gehören, dachte sie. Kein anderer Mann sollte sie mehr zu Gesicht bekommen. Das war ihr nur recht! Sie hatte befürchtet, vorgeführt zu werden und dass der Unsterbliche sie so behandeln würde, wie es Kurunta mit der unglücklichen Prinzessin vom Seidenfluss getan hatte.