Shaya fiel in leichten Schlaf. Sie hatte das Gefühl in warmem Wasser zu treiben. Schwerelos. Ganz nah spiegelte sich der Mond auf den sanften Wellen des Sees. Ein blendendes, silbernes Licht. Ein oder zwei Schwimmzüge nur, und sie könnte dort sein …
Etwas Salziges benetzte ihre Lippen. Shaya schlug die Augen auf. Die Dienerin war zurückgekehrt und versuchte ihr aus einer flachen Schale Brühe einzuflößen. »Ihr müsst Euch unterwerfen, Herrin. Er wird Euch töten. Er ist ein böser Mann!«
Ob Kurunta das Weib geschickt hatte? Ihm war klar, dass er den Machtkampf heute verloren hatte. Und viel weiter konnte er nicht mehr gehen! Ganz gleich, wie viel er Muwatta bedeutete. Wenn ihr etwas geschah, dann war auch sein Leben verwirkt.
Nachdem sie eine zweite Schale mit Suppe getrunken hatte, schlief Shaya erschöpft ein.
Am nächsten Morgen fand sie einen Lederschlauch mit Wasser zwischen den Decken auf dem Kamelrücken genau so versteckt, dass sie ihn trotz der gefesselten Handgelenke gerade noch erreichen konnte. Sie teilte sich das Wasser sorgsam ein, und als die Karawane am späten Nachmittag hielt, war sie viel besser bei Kräften als am Tag zuvor. Doch entschied sie, dies zu verheimlichen. Im Grunde war sie zwar überzeugt, dass in dieser Karawane nichts geschah, wovon er nicht wusste. Aber sollte sie sich mit dieser Annahme irren, würde ihrer Dienerin übel mitgespielt werden.
Die Diener, Träger und Karawanenwachen draußen sprachen mit gedämpften Stimmen. Auch die Tiere waren ungewöhnlich still. Es lag eine unheimliche Spannung in der Luft. Was war geschehen? Bedrohten Räuber den Zug? Nein, das war unmöglich, nur anderthalb Tagesritte vom Wandernden Hof entfernt. Es sei denn … Ein Lächeln huschte über ihre Züge. Es sei denn, ihr Vater hätte diese Räuber geschickt, um sie zu befreien. Aber eher würde die Sonne vom Himmel stürzen, als dass ihr Vater etwas unternahm, um sie vor Muwatta zu schützen. Im Gegenteil, er würde dafür sorgen, dass diese Reise ohne Zwischenfälle verlief.
Shaya streckte sich, soweit es ihre Fesseln zuließen. An die Pfosten ihres Gefängnisses gefesselt, fast zu völliger Bewegungslosigkeit verurteilt, waren ihre Glieder wie taub, und ein Schmerz, als würden ihr Hunderte Nadeln durch die Haut gestoßen, durchlief ihre Arme, als sie sich vorstreckte, um durch die Vorhänge zu blicken.
Vergeblich. Der Stoff ließ zwar Licht hindurch, erlaubte ihr aber nicht, irgendetwas zu erkennen, was draußen vor sich ging. Sie sah die Schemen von einigen Kamelen und Lastenträgern, das war alles.
»Holt die Prinzessin«, erklang Kuruntas grobe Stimme. »Und schlagt ein Lager auf. Wir werden hier die Nacht verbringen.«
Ihr Kamel kniete nieder, und die Dienerin, die ihr in der letzten Nacht die Suppe gekocht hatte, stieg zu ihr hinauf, um ihre Fesseln zu lösen. Mit verschwörerischem Lächeln ließ sie den Wasserschlauch unter ihrer Schürze verschwinden. »Ich wünsche Euch Glück, Prinzessin«, flüsterte sie. »Und einen guten Mann, der Eurer würdig ist.«
Diese letzten Worte ließen einen Kloß in Shayas Hals aufsteigen. Sie schalt sich eine Närrin wegen ihrer sentimentalen Gefühle, vermochte sie aber nicht zu beherrschen. Nur mit Mühe gelang es ihr, Tränen zu unterdrücken. Auf sie wartete kein Glück mehr in ihrem Leben, und den Mann, den sie liebte, würde sie niemals wiedersehen.
Schmerzhaft durchbohrten die Strahlen der Nachmittagssonne ihre Augen. Sie musste das Gesicht abwenden und vermochte kaum etwas zu sehen, so geblendet war sie, nachdem sie den ganzen Tag im stickigen Halbdunkel ihres Gefängnisses verbracht hatte. Shaya stützte sich auf die Dienerin. Sie hätte aus eigener Kraft gehen können, doch zog sie es vor, Kurunta glauben zu machen, sie wäre genauso gebrechlich wie am gestrigen Tag.
So wenig sie auch sehen konnte, nahm sie mit jedem anderen ihrer Sinne die Spannung wahr, die um sie herum herrschte. Die unruhigen Laute der Tiere. Den Geruch der Angst.
»Bringt sie her!«, rief Kurunta ungeduldig.
Shaya hielt immer noch den Kopf gesenkt. Vor ihr war etwas, das in silbernes Licht getaucht war. Leises, metallisches Klirren begleitete seine Bewegungen. Dicht daneben erkannte sie eine Fläche aus Dunkelheit.
»Du kennst die magischen Tore, die uns die Devanthar geschenkt haben«, sagte Kurunta. »Du musst sie schon oft durchschritten haben und solltest dich nicht so fürchten wie diese Karawane hasenherziger Nichtsnutze! Wir gehen nun an einen Ort, an dem man dich auf deine Hochzeit vorbereiten wird. Man wird deine Haut striegeln, bis der Pferdegestank gewichen ist, und dein Haar so lange bürsten, bis es weich wie Seide ist.«
Shaya blickte erschrocken auf. Die Sonne stach ihr in die Augen, sodass Tränen über ihre Wangen rannen. »Es ist schon so weit.«
Kurunta lachte. »Fast, Barbarenprinzessin. Fast.« Er winkte zwei seiner Leibwachen. »Stützt sie, damit sie nicht vom Goldenen Pfad abweicht.«
Shaya ließ widerstandslos über sich ergehen, dass die beiden Kerle sie grob packten und mit sich zerrten. Ihre Hände waren nass von kaltem Schweiß. Sie hatten Angst. Sie schritten durch das magische Tor in den leeren Raum zwischen den Welten. In der Dunkelheit berührte sie ein kühler Windhauch. Nach der Hitze des Graslands war er Shaya willkommen. Es war ein seltsames Gefühl, auf dem Goldenen Pfad zu gehen, der sie sicher zum nächsten Portal führen würde. Shaya erinnerte sich noch gut an die Schrecken ihrer ersten Reise durch das Nichts.
Nur wenige Schritte, und sie traten in das milde Licht der Abenddämmerung. Es war unmöglich zu schätzen, wie weit die Reise durch das Nichts sie gebracht hatte. Neugierig sah sie sich um. Sie stand auf einem felsigen Hang, hoch über einem Tal, das von einem schmalen See fast gänzlich ausgefüllt wurde. Die Sonne war hinter den Bergen im Westen untergegangen. Das Licht hier stach nicht mehr schmerzhaft in ihre empfindlichen Augen.
Eine Gruppe von etwa zwanzig Frauen stand nicht weit entfernt. Sie alle trugen lange, tieforangene Kleider. Ihre Haare waren hochgesteckt. Soweit Shaya erkennen konnte, trugen sie keinen Schmuck. Einige stämmige Frauen stützten sich auf lange, weiße Wanderstäbe. Shayas Blick wanderte den Berg hinauf. Weiter oben am Hang lagen große, weiße Häuser, die, ineinander verschachtelt, geradewegs aus dem Fels zu wachsen schienen. Ihre Flachdächer wurden von farbigen Brüstungen eingefasst. Masten wie auf Schiffen ragten über den Dächern auf, und von einem Gespinst an Seilen, das sich zwischen ihnen spann, flatterten Hunderte bunter Fähnchen im Abendwind. Das Knattern der Tücher war bis zu ihnen zu hören.
Eine schlanke, kleine Frau mit ausgezehrtem, mürrischem Gesicht trat aus der Gruppe der Priesterinnen.
»Ich grüße dich, Tabitha, Herrin über das Haus des Himmels.« Kurunta deutete eine knappe Verbeugung an. Für seine Verhältnisse verhielt er sich geradezu ehrerbietig.
»Auch ich grüße dich, Kurunta, Hüter der Goldenen Gewölbe. Ein Jahr ist vergangen, seit wir uns das letzte Mal sahen. Es erfüllt mich mit Freude zu sehen, dass du dich von den Verwundungen erholt hast, von denen ich erzählen hörte.«
Ein Muskel zuckte im verbrannten Gesicht des Gesandten, dicht unter seinem linken Auge. »Ich muss dich vor der Braut, die sich der Unsterbliche Muwatta erwählt hat, warnen, Mutter der Mütter. Sie ist eine Barbarin und äußerst widerspenstig. Noch hat sie nicht begriffen, welches Glück es ist, vom Unsterblichen erwählt worden zu sein.«
Tabitha warf ihr einen abschätzenden Blick zu. Sie hatte schöne, haselnussbraune Augen mit hellen Sprenkeln darin. Daher der Name, dachte Shaya. Sie wusste, das Tabitha im Luwischen so viel wie Reh bedeutete. Allerdings waren die Augen das Einzige, was diese Frau von einem Reh hatte. Ansonsten erinnerte sie eher an ein Stück Trockenfleisch.
»Ich bin mir sicher, dass wir in der verbleibenden Zeit eine fügsame und glückliche Braut aus ihr machen werden. Ich gehe davon aus, dass mir erlaubt sein wird, sie zu züchtigen, wenn ich die Notwendigkeit dazu sehe.«