Erst als Nandalee sich hinter einen Mammutschädel nahe dem Wasserfall kauerte, blickte sie zurück. Ihre Gefährten hatten auf der anderen Seite des Bachbettes einen sanft ansteigenden Hang erklommen. Als habe er ihren Blick bemerkt, gab Cullayn ein Zeichen zu halten. Die drei waren fast auf einer Höhe mit dem Eingang zur Höhle und nur etwas mehr als hundert Schritt Luftlinie von ihr entfernt.
Die beiden Maurawani zogen die Sehnen auf ihre Bögen. Tylwyth schoss als Erster. Sein Pfeil stieg in steilem Bogen in den Himmel. Ein schrilles, pfeifendes Geräusch begleitete seinen Flug. Ein Heuler, dachte Nandalee. Hinter der Stahlspitze steckte ein dünnes Metallröhrchen auf dem Schaft des Pfeils. Im Flug verursachte es einen schrillen Ton. Fast wie eine Flöte.
Der Pfeil verschwand im Dunkeln der Höhle. Sie hatten das Ungeheuer aufschrecken wollen, doch nichts geschah. Nun verschoss Cullayn einen Heuler, der mit einem dunkleren Pfeifton durch den Himmel zog. Nandalee hatte davon gelesen, wie solche Pfeile gegen Kavallerie eingesetzt wurden. Sie brachten die Pferde dazu, zu scheuen und ihre Reiter abzuwerfen. Den Immerwinterwurm, oder was auch immer in dieser Höhle hauste, beunruhigten sie allerdings nicht. Vielleicht war das Ungeheuer auf Beutesuche?
Ihre drei Gefährten berieten sich kurz. Dann sah sie Cullayn Stoffstreifen um einen Pfeil wickeln. Kurz darauf flog ein Brandpfeil in die Höhle. Nandalee hielt den Atem an.
Das Eis des gefrorenen Wasserfalls knirschte und knackte. Der letzte rote Abglanz der Sonne verblasste, und Dunkelheit kam über die Berge. Nandalee hatte das Gefühl, dass es noch kälter wurde. Sie rieb ihre Hände gegeneinander und richtete sich in ihrem Versteck auf.
Eissplitter rutschten den gefrorenen Wasserfall hinab. Wahrscheinlich war es der Druck des Wassers, der das Eis arbeiten ließ.
Ihre Gefährten entzündeten einen zweiten Brandpfeil. Diesmal schoss Tylwyth. Eine Böe drückte den ohnehin schon kopflastigen Pfeil hinab. Er verfehlte den Höhleneingang, schlug gegen den Eispanzer am Hang und stürzte in die Tiefe.
Nandalee hörte ein Rumoren unter dem Eis. Jeden Augenblick würde das Wasser die Eiskruste sprengen und sich in das gefrorene Bachbett ergießen. Hastig zog sie sich zurück, um höheres Gelände zu erreichen.
Cullayn hatte einen dritten Brandpfeil entzündet, verharrte aber abwartend.
Deutlich konnte Nandalee jetzt Risse im Eis sehen. Aus dem anfänglichen Klicken herabfallender Splitter war lautes Getöse geworden. Große Brocken lösten sich und donnerten ins Bachbett hinab.
Plötzlich kam die ganze Eiswand ins Rutschen. Etwas löste sich daraus. Nandalee suchte instinktiv Schutz hinter einem Felsen. Eine Wolke aus Eissplittern und Sprühwasser wogte das Bachbett hinab. Und mitten darin erhob sich der Immerwinterwurm.
Lebendes Eis
Gonvalon blickte auf die Gestalt, die sich aus dem gefrorenen Wasserfall erhoben hatte. Nein, so groß wie sie war, musste sie ein wesentlicher Teil des Wasserfalls gewesen sein.
Cullayn neben ihm stieß den Brandpfeil in den Schnee. »Lauf, Schwertmeister!«
»Wir haben Nandalee versprochen, die Kreatur von ihr abzulenken«, entgegnete er ruhig und griff nach dem Zweihänder, den er über den Rücken geschnallt trug. Mit leisem Zischen glitt die Waffe aus der geölten Lederscheide.
Das Lärmen im Tal verebbte. Nur vereinzelte Eisbrocken stürzten noch in den Bach. Acht tellergroße, fahlgelbe Augen blickten zu ihnen den Hang empor. Nie hatte Gonvalon eine Kreatur wie diese gesehen. Sie schien aus lebendigem Eis erschaffen zu sein oder aus Kristall. Dutzende Beinpaare säumten einen schlangenartigen Leib. Oder nein, er erinnerte eher an einen Tausendfüßler. Nur dass die obersten Beinpaare in Klauen mündeten wie bei einer Fangheuschrecke, die vier Augenpaare wie eine Spinne hatte. Das Ungeheuer hatte sich halb aufgerichtet. Es war acht oder neun Schritt hoch. Etliche seiner Arme ruderten in der Luft. Irgendwie wirkte es benommen, fand Gonvalon, ganz als sei es aus langem Schlaf erwacht.
»Die Brandpfeile haben es geweckt, nicht wahr?«, flüsterte Tylwyth.
»Das war gut so.« Gonvalon stellte sich vor, was geschehen wäre, wenn Nandalee beschlossen hätte, die Eiswand zu erklimmen, nachdem die Heuler kein Ungeheuer in der Höhle aufgescheucht hatten. »Ihr beiden geht jetzt besser. Ich danke euch dafür, dass ihr uns hierhergebracht habt.«
Der Immerwinterwurm bewegte sich behäbig in ihre Richtung.
»Der ist zu groß für dein Schwert«, sagte Cullayn grimmig und zog seine Bogensehne bis weit hinter das Ohr. Zischend schnellte der Pfeil davon.
»Wir gehen jetzt langsam rückwärts und locken ihn, damit er Nandalee nicht bemerkt.«
»Irgendwie hört sich das nach einer unglaublichen Dummheit an, so ein Vieh anzulocken, statt einfach die Beine in die Hand zu nehmen«, bemerkte Cullayn. Sein Pfeil war wirkungslos am Eispanzer des Ungeheuers abgeprallt. Er spannte erneut seinen Bogen. »Schießen wir auf die Augen, Tylwyth.«
Zwei weitere Pfeile schnellten dem Immerwinterwurm entgegen. Die Kreatur blinzelte und stieß einen gellenden Schrei aus. Dann ließ sie sich vornübersinken und eilte erschreckend schnell durch das Bachbett dem sanften Hang entgegen.
»Jeder in eine andere Richtung!«, rief Gonvalon, blieb selbst aber stehen.
Auch die beiden Maurawani rührten sich nicht. »Wir laufen doch nicht davon, wo wir gerade herausgefunden haben, wo wir ihm wehtun können«, bemerkte Cullayn trocken und zog einen weiteren Pfeil aus seinem Köcher. Tylwyth wirkte weniger zuversichtlich. Seine Hand zitterte, als er den Bogen hob.
Gonvalon atmete aus und ließ allen Schrecken von sich abgleiten. Er machte einen Schritt nach vorn und hob Todbringer über den Kopf, bereit zu Angriff wie Verteidigung. Das Gewicht der Klinge war ungewohnt. Aber er war zuversichtlich. Dieses Schwert war dazu erschaffen worden, Ungeheuer zu töten, die unüberwindlich wirkten. Selbst die Devanthar fürchteten diese Waffe.
Der Immerwinterwurm wühlte kaum den Schnee auf, als er den Hang hinaufglitt. Er war wahrlich ein Geschöpf des Winters, und vermutlich war er zu dumm, um sich zu fürchten, dachte Gonvalon.
Als sie noch drei Schritt entfernt war, richtete sich die Kreatur auf. Ihre Klauen klickten gegeneinander, als sie sich zu ihm hinabbeugte. Gonvalon machte einen Schritt nach vorn. Todbringer fuhr in blitzendem Bogen nieder und durchtrennte eines der unzähligen Beine. In fließender Bewegung riss er die Waffe wieder hoch. Eine Klaue glitt über den Silberstahl und verfehlte seinen Rücken.
Der Schwertmeister bewegte sich wie im Klingentanz, den er an der Weißen Halle gelehrt hatte. Sein Atem ging gleichmäßig. Todbringer wob blitzende Bögen aus silbernem Licht durch die Nacht. Gonvalon duckte sich, griff an, täuschte, stieß zu. Dicht wie Hagelschlag prasselten die Hiebe auf die Kreatur hinab. Die magische Klinge vermochte die kristallklaren Klauen des Ungeheuers nicht zu verletzen. Lang und gebogen wie Sichelblätter waren sie und saßen auf dünnen Armen mit mehreren Gelenken. Sie vermochten aus überraschenden Winkeln zuzustoßen. Es war, als müsste er gegen ein Dutzend Schwertkämpfer zugleich antreten. Dabei strahlte der Wurm eine durchdringende Kälte aus. Auch sie war eine Waffe! Hätte Nandalee ihm nicht ihr Amulett überlassen, würde sein Eisodem ihn langsam lähmen und kampfunfähig machen.
Cullayn und Tylwyth waren ein Stück zurückgewichen. Noch immer schossen sie mit ihren Pfeilen nach den großen, fahlgelben Augen. Fünf der Augen hatten sich geschlossen. Eine zähe, durchscheinende Flüssigkeit troff aus den Wunden herab.
Todbringer schrammte über den kristallenen Leib des Ungeheuers. Der Hieb hinterließ eine Kerbe. Gonvalon wusste, dass er mit aller Kraft zustechen musste, wenn er die Bestie ernsthaft verwunden wollte. Aber wenn die Klinge in den Leib des Ungeheuers glitt, würde er die Angriffe der Sensenklauen nicht mehr parieren können. Sie würden beide sterben. Er brauchte einen besseren Plan.
»Wir haben nur noch drei Pfeile«, rief Tylwyth.
»Schießt auf sein Maul.« Noch ging sein Atem regelmäßig, aber Gonvalon wusste, dass er dieses Duell nicht mehr lange durchhalten würde. Das Ungeheuer zeigte nicht das geringste Anzeichen von Erschöpfung. Auch variierte es seine Angriffe nicht. Die Sensenklauen stießen in immer gleichem Rhythmus auf ihn hinab. Seine Paraden hatten sich dem angepasst. Klauen und Stahl woben eine sich wiederholende Melodie. War die Kreatur intelligent?