An der Weißen Halle hatte Gonvalon seine Schüler gelehrt, dass ein Weg zum Sieg sein konnte, einen guten Schwertkämpfer zu narren, indem man ihn immer wieder auf dieselbe Art angriff. Es musste eine schnelle Folge von Hieben sein, die ihn nicht zum Gegenangriff kommen ließ. Sobald sich aber ein Rhythmus zwischen beiden Kämpfern einspielte, sollten sie mit einer Attacke aus dem Muster ausbrechen. Fast immer vermochte so ein überraschender Angriff die Abwehr zu durchdringen und den Kampf zu beenden.
Der Schwertmeister blickte zu dem Maul der Bestie empor. Es war fast kreisrund und von kleinen Armen umgeben, die in klickenden Hummerscheren endeten. Nur dass diese Scheren groß wie Trollfäuste waren.
Gonvalon wurden die Arme schwer. Immer deutlicher spürte er das Gewicht des Bidenhänders. Seine Bewegungen wurden langsamer. Er wich ein Stück zurück. Der Kampf hatte ihn bis dicht an den Rand der Klamm geführt. Er dachte an die trügerischen Schneewechten.
»Zieht euch zurück!«, rief er den Maurawani zu.
»Wir lassen dich nicht im Stich!«, entgegnete Cullayn trotzig.
Aus den Augenwinkeln sah Gonvalon, dass der Maurawan sein langes Jagdmesser gezogen hatte.
»Nandalee braucht euch lebend für ihre Flucht. Lauft, verflucht noch mal!«
Cullayn ließ sich von Tylwyth ein zweites Jagdmesser zuwerfen und griff an. Der Jäger bewegte sich geschickt zwischen den Beinen der Bestie, doch sein Kampf war aussichtslos. Seine Klingen hinterließen nur flache Schrammen im Eispanzer des Ungeheuers.
»Wir schaffen das gemeinsam!« Cullayn hieb erneut auf die Beine der Bestie ein. Nur knapp entging er dabei dem Angriff einer Sensenklaue. Sie waren nur noch ein paar Schritt von der Klamm entfernt. Der Boden war hier leicht abschüssig. Der Schnee reichte Gonvalon mittlerweile bis fast zu den Knien. Sie alle würden hier sterben, dachte er. Dieser Kreatur waren sie nicht gewachsen. Nicht, wenn sie alle am Leben bleiben wollten. Einer hatte den Preis zu zahlen.
Er ließ Todbringer herumwirbeln und rammte es mit der Spitze voran in den Leib des Immerwinterwurms. Im selben Augenblick traf ihn ein Hieb im Rücken. Er spürte die Sensenklaue zwischen seinen Rippen hindurchgleiten, während Todbringer bis zum Heft im Leib des Ungeheuers verschwand. Eisige Kälte breitete sich in seinem Körper aus. Die Kralle schob sich aus seiner Brust. Das zerfetzte Fleisch gefror.
Cullayn sah ihn entsetzt an.
»Bitte verzeih … Nandalee.« Er blickte zum wogenden, grünen Licht am Himmel und dachte an die vergangene Nacht. Er lächelte. Ein blauer Stern stand über ihnen. Wie in jener Nacht, als er Nandalee zum ersten Mal begegnet war. Der Kreis schloss sich, dachte er. Dann machte er die Augen zu. Es war vorbei.
Jagdzauber
Er lockte es hinter sich her. Nandalee sah einen Augenblick lang zu. Er war ihm gewachsen. Als Einziger. In silbernen Bögen wirbelte ihr Schwert. Es war die richtige Entscheidung gewesen, ihm Todbringer zu überlassen. Sie lockten das Ungeheuer fort, ganz wie es besprochen war. Sie musste die Zeit nutzen, die sie ihr erkauft hatten. Selbst Gonvalon wäre der Bestie auf Dauer nicht gewachsen.
Nandalee warf die weiße Decke zurück und stürmte los. Unter dem geborstenen Eispanzer, seitlich des Wasserfalls, waren Stufen im Fels. Zu groß und unregelmäßig, um das Werk von irgendwelchen anderen Kreaturen als Trollen zu sein. Sie schienen diesen Eingang zum Königsstein häufig genutzt zu haben, bevor der Immerwinterwurm hierhergekommen war.
Die meisten Stufen waren noch von Eis verkrustet. Sprühwasser machte sie schlüpfrig. Sie fühlte sich wie ein Kind, als sie diese zu große Treppe erklomm. Eilig, ohne zurückzublicken. Das wütende Fauchen der Bestie hallte durch das Tal. Sie hatten die Kreatur verletzt.
Sie schuldete es Gonvalon und den anderen, keine Zeit zu vergeuden. Nicht einmal für einen einzigen Blick. Tylwyth und Cullayn würden ihm helfen, sich abzusetzen, dachte sie und bereute zugleich, die drei auf diese Suche mitgenommen zu haben. Sie hatte sie in tödliche Gefahr gebracht.
Endlich erreichte sie den Eingang zur Höhle. Ein blasses, weit entferntes Licht spendete gerade genug Helligkeit, um die Umrisse des Tunnels zu erkennen. Gleich hinter dem Eingang verengte er sich. Die Trolle hatten hier wohl geduckt gehen müssen. Für den Immerwinterwurm gab es keine Möglichkeit, von hier in den Berg einzudringen.
Nandalee zog Gonvalons Schwert. Er hatte nie viel von seiner Waffe erzählt. Alle Drachenelfen machten aus ihren Schwertern ein Geheimnis, und es geschah so gut wie nie, dass sie ihre Klingen verliehen.
»Wirst du mir gut dienen?« Sie blickte auf den verwunschenen Silberstahl. Ein fahler Glanz umspielte ihn, selbst in der Dunkelheit des Tunnels. Sie dachte an den tödlichen Kampf, den Gonvalon in diesem Augenblick zu bestehen hatte. Sie durfte hier nicht zaudern. Schnell und lautlos eilte sie weiter. Bald fand sie ein fast herabgebranntes Feuer. Hatten hier Wachen gestanden? Der Tunnel wölbte sich zu einer weiten Höhlung. Der Rauch und der Gestank verbrannten Fells überdeckten den Gestank der Trolle. Wohin waren die Wachen gegangen? Meldeten sie dem Trollkönig, dass der Immerwinterwurm erwacht war?
Aus der Höhle führten mehrere Tunnel tiefer in den Berg. Das Licht der Glut spiegelte sich rötlich auf Gonvalons Klinge. War das fahle, silberne Licht des Stahls ein wenig heller geworden?
In einem der Tunnel brannte eine ferne Flamme. Die übrigen waren vollkommen dunkel. Sollte sie damit gelockt werden? Nandalee lächelte. Ganz sicher nicht. Die Trolle konnten nicht wissen, dass sie kam.
Sie folgte dem Licht. Lautlos huschte sie über den gewachsenen Fels. Irgendwo voraus tröpfelte Wasser. Ein kehliges Lachen erklang, vielfach von den Felsen gebrochen. Es war ihr unmöglich zu sagen, wo der Troll steckte, der seiner Heiterkeit so freien Lauf ließ. Ein lachender Troll, das passte nicht in ihr Bild der grausamen Ungeheuer.
Das Licht, das sie angelockt hatte, stammte von einer Fackel, deren Stiel in einen Felsspalt gerammt war. Die Höhlenwände ringsherum waren mit Ruß beschmiert. Primitive Zeichnungen zeigten Hirsche, Mammuts und Wollnashörner. Jagende Trolle trieben ein Rudel Rehe über den Rand einer Steilklippe. So einfach die Zeichnungen auch waren, hatte der Künstler die stürzenden, verdrehten Körper der Tiere doch erstaunlich ausdrucksstark gestaltet. Die Proportionen der Tiere stimmten nicht, aber irgendwie hatte es der Troll geschafft, die verzweifelte Todesangst der stürzenden Rehe in diesem Bild einzufangen. Angewidert wandte sie sich ab. Sie war selbst Jägerin, sie hatte hundertfach getötet. Aber sie hatte sich nie am Anblick des Todes geweidet, so wie dieser unbekannte Maler es getan hatte.
Der Tunnel weitete sich zu einer Tropfsteinhöhle. Das tanzende Licht der Fackel ließ Schatten hinter den gewachsenen Säulen über die Höhlenwände huschen. Überall waren Bilder. Manchmal waren es nur Handabdrücke in einem dunklen Rotbraun oder Geschmiere, dem sie keinen Sinn zu entlocken vermochte. Eine der Zeichnungen zeigte zwei Trolle, die eine kleinere Gestalt an Händen und Füßen festhielten. Einen Elfen?
Es stank nach ranzigem Fett. Sie wusste, dass die Trolle gerne ihre haarlose, steingraue Haut einfetteten, um ihr Glanz zu verleihen. Die Bilder an den Wänden beunruhigten sie. Sie hatte nicht erwartet, dass Trolle malen konnten. Für sie waren sie bislang lediglich mörderische, große Bestien gewesen. Ganz gleich, ob sie primitive Waffen herstellten und einen der Ihren einen König nannten.
Aber Bestien malten ihre Höhlen nicht aus …
Der Geruch wurde stärker. Da war etwas. Ein schlurfendes Geräusch. Angespannt blickte sie in die tanzenden Schatten. Und dann plötzlich erlosch die Fackel. Zu schnell!