Seine Konzentration war dahin. Er drehte sich zu der Koboldin um, die stoisch seinem zornigen Blick standhielt. »Für ein kleines, altes Weib, dessen Aufgabe es ist, Pferdeäpfel vom Flugdeck zu fegen, führst du ein erstaunlich freches Mundwerk.«
»Da Ihr ganz richtig erkanntet, dass es meine Aufgabe ist, mich um Scheißhaufen an Deck zu kümmern, ahnt Ihr vielleicht schon, warum ich das Gespräch mit Euch suche.«
Der Goldene war verblüfft. Eine Weile blickte er ungläubig auf die Koboldin herab, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Langsam begann er zu begreifen, warum sich der Sänger diese Kreatur hielt. Sie war amüsant! Er war fast so alt wie die Welt, und noch nie hatte es jemand gewagt, so zu ihm zu sprechen. Das war eine neue Erfahrung. Und Tage, an denen er noch etwas Neues erlebte, waren überaus selten geworden. Er würde sich revanchieren und ihr ein unerwartetes Schauspiel bieten. »Du findest also, ich sollte unseren strahlenden Helden heilen, damit er der bedrohten Maid im letzten Augenblick zu Hilfe eilt.«
»Darin würde ich in der Tat eine gewisse Größe sehen.«
»Nandalee ist eine jähzornige Mörderin, die das Schicksal in die Hände des Vaters spielte, dessen Sohn ihr Opfer wurde. Auch wurde prophezeit, dass sie womöglich die Ordnung dieser Welt zerstören wird. Und du findest, sie sollte leben.«
»Betrachtet Ihr Euch als Verkörperung der Ordnung dieser Welt?«, fragte Sata ruhig.
»Hast du keine Angst, dass du mich erzürnen könntest, kleines Koboldweib? Du weißt, dass ich kein Elf bin.«
»Ich weiß, dass ich in Euren Augen nicht mehr bedeute als die Pferdeäpfel, die ich von Deck fege, Licht der Sonne. Nun bedenkt, aus welcher Höhe ein solcher Pferdeapfel für gewöhnlich herabfällt. Wie viel tiefer stürzt die Sonne, wenn sie fällt? Was habe ich schon zu verlieren im Vergleich zu Euch?«
Der Goldene musste lachen. »Ich werde den Sänger bei Gelegenheit fragen, ob ich dich einmal ausleihen kann.«
»Um vor Eurer Tür zu fegen?«
»Erwartest du dort Misthaufen?«
Dieses Mal blieb sie ihm eine Antwort schuldig.
»Also gut. Ich gebe dem Schicksal der beiden eine andere Wende. Aber bitte bedenke, dass selbst der größte Poet eine Tragödie im letzten Akt nicht mehr in eine Komödie umzudichten vermag.«
Geteilte Erinnerungen
Eleborn wurde mit jedem Tag unruhiger. Er hatte geglaubt, der Himmlische habe ihn berufen, um ihn unter seine Drachenelfen aufzunehmen. Er war glücklich gewesen, dass der Himmlische durch einen Boten an ihn herangetreten war. Der Drache galt als die weiseste der Himmelsschlangen, besonnen und so unermesslich stark wie das Wasser, das auf die Dauer selbst den härtesten Fels zermürbte.
Doch statt ihn zum Drachenelfen zu machen, hatte er ihn in die Blaue Halle geschickt. Dort musste er lesen, sich Geschichten über die Menschen aus Drus und Aram erzählen lassen. Stundenlang, jeden Tag. Es schien, als solle er auf eine Mission vorbereitet werden. Aber dazu musste er doch erst ein Drachenelf sein!
Jetzt hatten sie ihn in einen Hain etwa eine Meile westlich der Blauen Halle bestellt. Er saß auf einem Stein inmitten einer Lichtung. Die Oberfläche des großen Steins war zerfurcht. In den tiefen Rillen schimmerte es rotbraun. Rost? Vielleicht war Eisenerz in dem Stein enthalten? Getrocknetes Blut?
Eleborn sah sich nervös um. War das hier ein Richtplatz? Wussten sie es? Er hatte beim Kampf um die Tiefe Stadt zwei dieser seltsamen Tauchfässer der Zwerge entkommen lassen. Es waren Frauen und Kinder an Bord gewesen, und er hatte die Weißen Schlangen zurückgehalten.
Der junge Elf straffte sich und atmete tief ein. Er betrachtete die Birken, die die Lichtung umstanden, die feuerroten Mohnblüten auf der Wiese, die Bienen, die summend von Blüte zu Blüte huschten. Es war ein schöner Ort, voller geschäftiger Harmonie. Nur von dem Felsen, auf dem er saß, ging etwas Dunkles aus.
Er würde wieder so entscheiden. Immer wieder, wenn er die Wahl hätte, einem zu grausamen Befehl zu gehorchen oder sich dagegen aufzulehnen. Vielleicht hatte er seinen Unmut über das Massaker zu deutlich in der Weißen Halle gezeigt? War zu nah mit Nandalee befreundet. Wie es ihr wohl ergangen war? War sie genesen?
Zwischen den Bäumen erschienen zwei Gestalten. Eine in Blütenweiß, die andere in lichtem Blau gekleidet. Sein Tribunal? Mit Schrecken erkannte er jetzt die Elfe in Weiß. Lyvianne! Was tat sie hier? Sie nickte ihm zu. Ihr schwarzes Haar war zurückgekämmt und zu einem einzelnen Zopf geflochten. Sie wirkte streng und unnahbar. Ihr Kleid mit hohem Stehkragen war mit goldenen Borten bestickt, was ihren Rang als Meisterin der Weißen Halle unterstrich.
Sie schien gut gelaunt. Ein anzügliches Lächeln spielte um ihre vollen Lippen, das auf ihrem schmalen, unnahbaren Antlitz deplatziert wirkte. »Ich grüße dich, Eleborn, und beglückwünsche dich zu der besonderen Mission, die dich erwartet. Ich kenne nur wenige, die diesen Schmerz und solche Mühsal auf sich genommen hätten. Der Auftakt wird dir allerdings gefallen, schätze ich.«
Wie meinte sie das? Und was wusste sie über seine Mission? Sie war eine Dienerin des Goldenen. Üblicherweise unterrichteten sich die Himmelsschlangen nicht untereinander über die Einsätze ihrer Drachenelfen. Sofort wurde ihm der Fehler in diesem Gedanken bewusst. Er war ja noch nicht einmal ein Drachenelf.
»Ich grüße auch dich, Lyvianne«, entgegnete er mit wenig Enthusiasmus.
»Darf ich dir Shianne Lyn vorstellen.« Sie bedachte die kleine, braunhaarige Elfe in ihrem Gefolge mit einem freundlichen Lächeln. »Sie arbeitet in den Archiven der Blauen Halle. Unbegreiflicherweise! Ihr großes Talent ist das Harfenspiel. Sie vermag mit ihren Melodien die Seelen ihrer Zuhörer zu berühren. Sie ist einzigartig, Eleborn. Es ist ein Privileg, ihr lauschen zu dürfen.«
Shianne Lyn errötete. »Ich vermag mich in Euren Worten nicht wiederzuerkennen, Meisterin. Gewiss werde ich Eleborn nun enttäuschen.« Die Harfenspielerin lächelte ihn an. »Erwartet bitte nicht zu viel. Dieses Instrument ist neu und wir beide sind noch nicht wirklich miteinander verwachsen.« Sie strich leicht mit den Fingerspitzen über die Saiten.
Eleborn sah verwundert auf das Instrument. Schon diese kurze Tonfolge hatte etwas Berührendes. Er fühlte sich leichter, als habe der Klang der Harfe seine Sorgen von ihm genommen. »Erstaunlich …« Er öffnete sein Verborgenes Auge. Shianne Lyn hatte keine Magie in ihr Harfenspiel gewoben. Auch das Instrument war nicht mit einem Zauber belegt. Es erschien ihm ein wenig zu groß, um es während des Spiels im Arm zu halten. Aus rotbraunem Holz gefertigt, war es mit schlichtem Schnitzwerk geschmückt. Verschlungene Linien, die spielerisch ineinander übergingen. Es gab keine Intarsien, kein Gold oder Silber.
»Mir ging es genau wie dir, als ich diese Harfe zum ersten Mal hörte«, sagte die junge Elfe. »Ihr Klang machte mir das Herz frei. Dabei scheint dem Instrumentenbauer sogar ein Fehler unterlaufen zu sein. Sie hat nur siebenundzwanzig Saiten, was sehr wenig ist.« Wieder ließ sie ihre Fingerspitzen über das Instrument gleiten.
»Du solltest ihr deinen Platz anbieten, Eleborn«, ermahnte ihn Lyvianne. »Das Instrument ist schwerer, als es aussieht. Shianne Lyn sollte es abstützen, wenn sie darauf spielt.«
Eleborn räusperte sich verlegen. »Natürlich. Entschuldigung.« Er erhob sich von dem Stein, mochte sich aber nicht an Lyviannes Seite stellen. Ihre Anwesenheit hier war ihm unheimlich. Sie … Ein Schatten glitt über die Lichtung. Das Summen der Bienen verstummte. Das Harfenspiel verklang mit einem dissonanten Akkord. Totenstille legte sich über das Land.
Plötzlich spürte Eleborn, wie das magische Netz sich zusammenzog. Lyvianne drehte sich zu ihm um. Auch sie hatte es bemerkt. »Er kommt«, sagte sie schlicht.
Eleborn wusste plötzlich nicht, wo er seine Hände lassen sollte. Ein Schatten zeigte sich zwischen den Birken. Noch immer war kein Laut zu hören.
»Mir scheint, er möchte zunächst mit dir allein sprechen.« Lyvianne bedeutete ihm mit einer Geste, die Lichtung zu verlassen. »Bis gleich.«