Ihre letzten Worte wurden wieder von einem sinnlichen Lächeln begleitet. Was sollte das? Was wusste sie, was ihm verborgen war? Eleborn war das Ganze unheimlich. Was hier geschah, verstieß gegen alle Regeln! Warum war sie in etwas eingeweiht, das ihn betraf?
Mit klammem Gefühl ging er dem Waldrand entgegen. Er spürte die Aura der Macht, noch bevor er den Himmlischen sah. Der Schatten war verschwunden.
Eleborn stieg einen sanft abfallenden Hang zu einem Bachlauf hinab. Ein seltsames, diffuses Licht fraß alle Schatten. Es schien von überallher zugleich zu kommen.
Warum fürchtet Ihr mich, Edler Eleborn? Die Stimme war plötzlich in seinem Kopf. Ich weiß, was Ihr in der Tiefen Stadt getan habt. Meine Brüder auch. Im Gegensatz zu den meisten von ihnen schätze ich es, dass Ihr Erbarmen gezeigt habt. Dies ist der Grund, der mich bewog, Euch aus der Weißen Halle abzuberufen. Die Stimme durchdrang ihn mit sanfter, warmer Kraft, sie füllte ihn aus wie Wasser ein leeres Gefäß. Seine Angst verflog.
Steigt zum Bach hinab und haltet Euch links, Edler Eleborn. Ihr findet mich bei der Quelle.
Der Elf gehorchte. Er fand einen von Moos überwucherten Felsspalt, aus dem der Bach entsprang. Dicht daneben war eine Nische in das Gestein geschlagen worden. Dort stand eine handgroße Figur aus Türkis, die einen schlanken Mann mit übergroßen Augen darstellte. Girlanden aus geflochtenen Blumen waren darum gelegt. Löwenzahn und Gänseblümchen, welke Mohnblüten. Am häufigsten Kornblumen.
Ein schlanker Elf in einer himmelblauen Tunika saß in der Nische und ließ eine Blumengirlande gedankenverloren durch seine Finger gleiten. Obwohl er saß, begegnete sich ihr Blick auf gleicher Höhe.
Ich weiß, ich verlange Euch viel ab, Edler Eleborn. Euch ist bekannt, dass die Elfen der Blauen Halle uns gute Dienste in der Anderen Welt leisten. Einer von ihnen scheint sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Er ist zu lange dort und beginnt zu denken wie ein Mensch. Ihr sollt ihn ersetzen. Doch dies ist ein langer und gefahrvoller Weg, der Euch abfordern wird, Euch selbst zu verleugnen, und Euch in Abgründe führen wird, wie Ihr sie Euch nicht vorzustellen vermögt. Werdet Ihr diesen Weg für mich gehen?
Eleborn zögerte. »Was hat Lyvianne damit zu tun? Dient sie nicht einem Eurer Brüder?«
Der Himmlische lächelte, und ein Gefühl grenzenloser Zuversicht kam über Eleborn. Wie hatte er so dumm sein können zu glauben, dass sein Meister nicht wusste, was er tat.
Ist Euch der Unterschied zwischen einer Illusion und einer Verwandlung bewusst?
»Eine Illusion gaukelt etwas vor. Eine Verwandlung hingegen erschafft eine neue Wirklichkeit.«
Ich sehe mit Zufriedenheit, dass Ihr ein aufmerksamer Schüler des Schwebenden Meisters wart. Eine Illusion gaukelt etwas vor. Sie muss durch einen permanenten Zauber aufrechterhalten werden. Wer sie durch sein Verborgenes Auge betrachtet, kann das Glühen des magischen Netzes und die widernatürliche Struktur, die erschaffen wurde, nicht übersehen. Eine Verwandlung hingegen ist ein tiefer Eingriff. Sie erschafft eine neue Wirklichkeit. Der Vorteil ist, dass die magische Struktur sehr schnell unauffällig wird. Darin liegt allerdings ein Risiko für den Verwandelten. Er kann sein wahres Selbst verlieren, wenn die Verwandlung zu lange andauert.
Eleborn ahnte, worauf dies hinauslief. »Und eine Verkleidung?«
Eine Verkleidung ist gefährlich. Wer dich mit dem Verborgenen Auge betrachtet, der wird den Elf in dir erkennen, wenn sein Misstrauen geweckt wurde.
»Ich … ich soll also so menschlich werden, dass ich kein Aufsehen errege.« Nandalee hatte ihm von den Menschen erzählt. Von dem Schmutz und Gestank. Davon, wie sie die Welt, in der sie lebten, zerstörten und alles Schöne besudelten. So sollte er werden! Eleborn war fassungslos. Wie konnte der Himmlische ihm das abverlangen? Ihm, der danach trachtete, die Welt schöner zu machen? Der es liebte, vergängliche Skulpturen aus Licht und Wasser zu erschaffen, deren einziger Zweck darin bestand, Auge und Herz des Betrachters zu erfreuen?
Ich will Euch, Edler Eleborn, weil Ihr ein Zweifler seid. Weil Ihr die Schönheit schätzt. Weil Ihr nicht leichtfertig töten werdet und doch dazu ausgebildet wurdet, es um so vieles besser zu tun als ein Elf der Blauen Halle, solltet Ihr dazu aufgerufen werden. Ich verhehle Euch nicht, dass der Tag kommen mag, an dem Ihr unseren Spitzel töten und seine Leiche verschwinden lassen müsst. Denn sollte er lebend den Devanthar in die Hände fallen, wäre der Schaden, der daraus erwachsen könnte, um ein Unendliches größer als der Nutzen, den Euer Vorgänger uns brachte.
Eleborn hatte das Gefühl, von den Worten des Himmlischen hinabgezogen zu werden in die lichtlosen Tiefen seiner Seele. Es bereitete dem Drachen Kummer, einen Elfen, der den Himmelsschlangen lange Zeit treu gedient hatte, womöglich töten lassen zu müssen. Doch er würde es tun.
Wir können kein Band zwischen Euch und mir knüpfen, so wie es üblich ist, wenn eine Himmelsschlange einen Elfen der Weißen Halle erwählt. Es wäre ein Zauber, den ich zerstören müsste, um Eurer Tarnung willen. Es sei Euch auch erlassen, einen Pegasus zu finden und zu zähmen, wie es alte Sitte ist. All dies muss warten, denn die Zeit drängt. Werdet Ihr Eure Mission annehmen, Edler Eleborn?
Ohne seine Antwort abzuwarten, legte der Himmlische ihm seine Hand auf die Brust. Sie fühlte sich schwer und kühl an, und sie griff in sein Innerstes, ohne auch nur seine Haut zu ritzen. Er verharrte eine Weile. Es schien, als würde er einem fernen Gespräch lauschen. Schließlich lächelte er, und Eleborn fühlte sich unglaublich erleichtert.
Das war alles, was ich wissen musste. Ihr seid der Mann, für den ich Euch gehalten habe. Kommt mit mir. Ich weiß jetzt, Ihr werdet mich nicht enttäuschen. Wir gehen nun zu Lyvianne.
»Darf ich erfahren, was sie mit meiner Mission zu tun hat, Himmlischer?« Er war bemüht, einen demütigen Ton anzuschlagen. Eleborn war sich bewusst, dass es ihm nicht zustand, so sehr auf dieser Auskunft zu beharren. Doch er vertraute der Meisterin der Weißen Halle nicht.
Ihr wisst um jenen Zauber, mit dem wir uns die Erinnerungen von Menschenkindern aneignen können?
Eleborn nickte. Es war einer jener Zauber, die er ganz gewiss nie weben würde. Er nährte sich von der Lebenskraft der Menschenkinder und ließ einen jungen Mann binnen einer Nacht zum Greisen werden.
Ich spüre Euren Widerwillen, Edler Eleborn, doch müsst Ihr Euch damit abfinden, dass alles seinen Preis hat. Die Devanthar sinnen auf unseren Untergang. Sie zwingen uns dazu, uns dagegen mit allen Mitteln zu wehren. Im Gegensatz zu den Devanthar sind wir jedoch durch die Fesseln moralischen Handelns gebunden. Stiehlt einer unserer Krieger die Erinnerungen eines Menschenkindes, so ist er aufgerufen, darüber Rechenschaft in der Blauen Halle abzulegen und einen Bericht mit den wichtigsten Erkenntnissen abzufassen. Shianne Lyn hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Lyvianne über Erinnerungen verfügt, die für Eure Mission überaus nützlich sein könnten. Ihr werdet für viele Monde in die Welt der Menschenkinder gehen, Edler Eleborn. Wenn alles gut geht, sogar für Jahre. Doch die Zeit drängt, deshalb könnt ihr die Sprachen und all das andere Wissen nicht auf dem üblichen Wege erlernen, auch wenn dies Euren hehren moralischen Ansprüchen genügen würde. Es ist die Not, die uns zwingt, alle unsere Möglichkeiten zu nutzen.
Er dachte daran, wie Lyvianne versucht hatte ihn auszuhorchen, als Nandalee aus der Weißen Halle verschwunden war. Es war schwer, ihr zu widerstehen, wenn sie etwas wollte, und er hasste die Vorstellung, ihr nun etwas schuldig zu sein.
Ihr werdet ihr künftig nicht mehr oft begegnen, Edler.