Tylwyth wartete immer noch auf seine Entscheidung. »Komm, gehen wir mit ihm.«
Cullayn runzelte die Stirn.
»Kannst du einem sterbenden Helden den letzten Wunsch abschlagen? Ich kann es nicht. Aber dir steht natürlich frei, beim Eissegler auf uns zu warten.«
Tylwyth griff nach dem Bogen, der an der Felswand lehnte. Dann folgte er ihm. Cullayn hatte es nicht anders erwartet. Sie waren jetzt schon seit Jahren Jagdgefährten, aber was Tylwyth in seinem Innersten bewegte, wusste er immer noch nicht. Nur so vieclass="underline" Er vermied es, eigene Entscheidungen zu treffen. Warum auch immer … Cullayn hatte ihn nie danach gefragt. Es war ein Glücksfall gewesen, einen Gefährten zu finden, mit dem er sich ohne große Worte verstand. Er würde ihre Freundschaft nicht mit neugierigen Fragen auf die Probe stellen.
Sie folgten Gonvalon, und als sie ihn erreichten, griffen sie ihm unter die Arme und stützten ihn. Der Schwertmeister duldete die Hilfe. Gonvalon musste wissen, wie wenig Kraft ihm noch verblieben war und dass er sich in seinen letzten Stunden keinen falschen Stolz mehr leisten konnte.
Der Sturm war über sie hinweggezogen, während sie in der Klamm Schutz gesucht hatten. Der Schnee fiel noch immer dicht, doch der eisige Nordwind, vor dessen rauem Atem die Wärme des Lebens floh, war zu einer schwachen Brise abgeebbt.
»Das Schwert …«, brachte Gonvalon hustend hervor. »Wir brauchen es.«
Voller Sorge sah Cullayn die feinen Blutspritzer auf der Hand des Schwertmeisters. »Ich werde es holen. Geht weiter hinauf zum Wasserfall. Ich hole euch ein.«
Er eilte die Klamm entlang, an der sie vor wenigen Stunden noch verzweifelt um ihr Leben gekämpft hatten. Der Sturm hatte den Schauplatz des Dramas verändert. Dort, wo der Kadaver des Immerwinterwurms lag, erhoben sich nun sanfte Hügel, die nicht ahnen ließen, was für ein Ungeheuer sie verbargen. Cullayn hatte das beklemmende Gefühl, dass sich etwas verändert hatte. Er vermochte es nicht zu greifen. Aber es war mehr als nur der Schnee, der sich als kaltes Leichentuch über die Bestie gelegt hatte. Instinktiv duckte er sich. Im dichten Schneetreiben konnte er kaum zwei Schritt weit sehen.
Er hielt den Atem an, zwang sich zu völliger Ruhe. Sein Puls wurde langsamer. Er lauschte. Die Zeit verrann. Schnee sammelte sich auf seinen Schultern und der Kapuze. Sein Atem war ein fast unsichtbarer Nebelhauch vor seinem Mund. Er wurde eins mit der verschneiten Landschaft. Bald wäre auch er nur ein sanfter Hügel im Schnee, so wie der Immerwinterwurm. Er konnte Gonvalon und Tylwyth nicht so lange alleine lassen. Wahrscheinlich hatten sie schon den Wasserfall erreicht und warteten auf ihn. Und der Schwertmeister konnte es sich nicht leisten zu warten.
Sein Instinkt warnte Cullayn. Er hatte sein ganzes Leben in der Wildnis verbracht. Er hatte erlebt, wie seine Sinne ihn getäuscht hatten. Aber seinem Instinkt hatte er immer vertrauen können.
Der Maurawan erhob sich. Unendlich langsam. Die Schneekruste auf seinem Rücken riss. Er brauchte das Schwert. Es musste noch im Kadaver stecken. Irgendwo zwischen den mittleren Beinpaaren der Kreatur. Dort, wo Gonvalon gelegen hatte. Cullayn schob den Neuschnee zur Seite. Darunter fand er das gefrorene Blut des Schwertmeisters. Er strich den Schnee von den dünnen, insektenartigen Beinen des Wurms. Da war nichts. Er konnte die Waffe nicht finden. Nicht einmal die tödliche Wunde, die Gonvalon der Bestie beigebracht hatte, konnte er entdecken. Wahrscheinlich suchte er beim falschen Beinpaar. Vielleicht hatte sich der Kadaver durch den Frost zusammengezogen.
Er klopfte weiteren Schnee von der Bestie, doch da war nichts. Kein Schwert und auch keine Wunde. Verwundert blickte er auf den Blutfleck im Schnee. Hier hatte Gonvalon gelegen. Das Schwert musste hier sein … Es sei denn, jemand war gekommen, um es zu holen. Bestimmt waren es keine Trolle gewesen. Ihre tiefen Spuren hätte auch der neue Schnee nicht völlig verwischt. Auch vermieden sie es, Metall zu berühren.
Der Maurawan betrachtete den Schnee. Er verriet ihm nichts. Konnte es sein, dass ein Drachenelf gekommen war, um die verlorene Klinge zu holen? Er kannte einige Geschichten, die man sich über diese verwunschenen Schwerter erzählte. Sie kehrten immer in die Weiße Halle zurück.
Ein leises Klicken erklang in der Stille des fallenden Schnees. Cullayn fuhr herum. Das Geräusch kam von weiter vorne. Er legte eine Hand auf den Griff seines Jagdmessers und ging zum Kopf der toten Bestie.
Der Schnee war von einem der kleinen Arme, die an Hummerscheren erinnerten und die rings um das Maul des Ungeheuers wucherten, herabgerutscht. Diese eine Schere öffnete und schloss sich. Immer wieder. Cullayn hatte gesehen, wie die Läufe von erlegtem Wild noch zuckten, obwohl das Leben sie schon verlassen hatte. Er hatte erlebt, wie Kadaver laut furzten, weil sich in ihrem Gedärm faulige Gase bildeten. Aber das hier war anders.
Das ganze Vieh ist anders als alles, was du bisher in deinem Leben gesehen hast. Es wurde durch Zauberkunst erschaffen, ermahnte er sich stumm. Du musst dir keine Sorgen machen!
Als wolle es seine Gedanken verhöhnen, öffnete sich eines der großen, fahlgelben Augen. Das waren keine zuckenden Muskeln. Er sah es im Blick der Kreatur. Sie erinnerte sich an ihn!
Ein Zittern durchlief die unzähligen Beine des Immerwinterwurms, und einer der großen Arme mit den langen Sensenklauen erhob sich.
Cullayn wich zurück. Das konnte nicht sein! Das Vieh war tot gewesen, als sie die Kralle, die Gonvalons Leib durchdrungen hatte, abgetrennt hatten.
Immer mehr Schnee rutschte von der Kreatur. Ein langer Seufzer, schauriger als alles, was der Maurawan je in seinem Leben gehört hatte, entrang sich dem Schlund der Bestie. Ein Laut, der nicht in diese Welt gehörte. Der Wurm kehrte ins Leben zurück!
Cullayn wandte sich ab und begann zu laufen. Sie mussten fort von hier. Wenn sie Nandalee in die Trollhöhlen folgten, säßen sie in der Falle. Noch schien der Wurm nicht ganz bei sich zu sein, wie ein Zecher, der nach zu kurzer Nacht nur langsam aus seinem Rausch in die Wirklichkeit zurückfand. Aber er erinnerte sich daran, wer ihn getötet hatte. Vorübergehend getötet …
Der Neuschnee erschwerte seine Flucht. Cullayn strauchelte über Steinbrocken, als er die flache Senke durchquerte, in die die Klamm auslief. Er folgte dem Lauf des Baches, der inzwischen wieder gefroren war, bis er den Wasserfall erreichte, in dem sich die Bestie verborgen gehalten hatte.
Gonvalon und Tylwyth waren nicht hier. Er sah ihre Spuren im Schnee. Sie endeten vor der zerklüfteten Eiswand. Cullayn entdeckte einen blutigen Handabdruck auf dem Eis, wo der Schwertmeister sich abgestützt hatte. Die beiden mussten oben bei der Höhle sein! Er fluchte. Tylwyth hatte ein Seil bei sich gehabt. Wahrscheinlich hatte er Gonvalon hinaufgezogen.
Der Maurawan blickte den Wall aus Eis hinauf, der sich im dichten Schneegestöber verlor. Er hatte nur die Wahl, den beiden zu folgen oder sie im Stich zu lassen. Mit einem leisen Fluch rückte er den Bogen auf seiner Schulter zurecht und stieg in die Eiswand ein. Sorgfältig mied er das dünne Rinnsal, das sich seinen Weg durch die Spalten bahnte und sie langsam mit neu gewachsenem Eis füllte. Als er endlich das Felssims erreichte, von dem die Eiskaskaden in die Tiefe wuchsen, kämpfte sich bereits graues Morgenlicht durch das Schneegestöber. Cullayns Hände waren taub vor Kälte. Er schlug sie sich vor die Brust, bis ihm ein kribbelnder Schmerz in die Finger kroch.
»Wo warst du so lange?« Tylwyth trat aus dem Dunkel des Höhleneingangs. Gonvalon stützte sich schwer auf seinen Gefährten. Der Schwertmeister sah entsetzlich aus. Sein Gesicht war fahl wie der Tod. Er hatte nicht mehr die Kraft zu sprechen. Er zitterte am ganzen Leib. Viel Zeit würde ihm nicht mehr bleiben, dachte Cullayn. Wenn er den beiden erzählte, dass der Wurm noch lebte, würde Gonvalon jede Hoffnung verlieren, dass sie mit Nandalee von hier entkommen konnten.
»Hab das Schwert nicht gefunden«, sagte er mürrisch. »Zu viel Schnee dort. Wir müssen es bei Tageslicht noch einmal versuchen.«