Bislang.
Ashira war in den letzten Nächten in sein Zelt gekommen, um ihn zu massieren, wenn seine Muskeln verkrampft waren und sein Leib bedeckt mit Prellungen, die er sich in den Kampfspielen zufügen ließ, damit nicht auffiel, dass er zu geschickt für einen Menschensohn war. Er hatte Ashira gemocht. Sie war keines dieser vollbusigen, frechen Weiber gewesen, die sich sonst mit Kriegern abgaben. Eine kleine, verhuschte Gestalt mit pockennarbigem Gesicht und einem fast knabenhaften Körper.
Kurunta hatte also Spitzel und Mörder in ihrem Lager. Wollte er mit dem Tod Ashiras andeuten, dass er auch ihn hätte ermorden lassen können? Datames ließ sich auf dem Faltstuhl neben seinem Arbeitstisch nieder. Er durfte sich jetzt nicht von seinen Gefühlen übermannen lassen. Er hatte alles gut machen wollen … Hatte gewollt, dass die Frauen nicht erpresst und verprügelt wurden, dass sie einen gerechten Lohn für ihre Arbeit bekamen, ganz gleich, welcher Art sie war. Und er hatte nicht geduldet, dass sich irgendwelche zwielichtigen Gestalten zu ihren Beschützern aufschwangen.
Kolja hatte mehrfach versucht, den Schutz der Frauen zu übernehmen. Er konnte diesen Fleischkopf nicht leiden! Wenn das alles hier vorüber war, sollte er sich die Geschäfte des Drusniers in Nangog einmal näher anschauen. Dass so viele der Söldner aus Aarons Leibwache krank waren, mochte er nicht glauben. Irgendetwas lief dort hinter seinem Rücken … Aber das war das Geschäft eines anderen Tages.
Datames klappte die Truhe wieder auf und zwang sich erneut hineinzusehen. Für den Späher hatte er nur einen flüchtigen Blick. Er war irgendwo in den Bergen gestellt und ermordet worden. Aber was war mit Ashira geschehen? Ein glatter Schnitt hatte ihre Kehle durchtrennt und reichte fast bis zur Wirbelsäule. Am hinteren Hals sah der Wundrand ganz anders aus. Zerfasert … Wahrscheinlich hatte der Mörder nur einen Dolch besessen und einige Mühe gehabt, den Kopf ganz vom Rumpf zu trennen. Und wo war ihr Leib? Es gab zu viele Hunde, um ihn nahe beim Lager irgendwo im Sand zu verscharren. Der Mörder würde die Leiche auch kaum herumgetragen haben. Er hatte Ashira zu einem Stelldichein an einen Ort bestellt, an dem er ihre Leiche sofort verschwinden lassen konnte. Wo mochte das gewesen sein?
Datames nahm das Innere der Truhe genauer in Augenschein. Sie war mit gewachstem Stoff ausgeschlagen, in dem sich das Blut der beiden Toten zu halb geronnenen Pfützen gesammelt hatte. Und da war noch etwas. Er hatte es zunächst übersehen, weil es fast völlig in einer Blutlache versunken gewesen war.
Mit spitzen Fingern zog er es hervor. Es war glitschig, kaum zu packen. Ein Täfelchen aus ungebranntem Ton, halb so groß wie seine Hand.
Endlich lag es vor ihm auf dem Tisch. Die Schriftzeichen, tief mit dem Griffel in den weichen Ton gedrückt, waren mit Blut vollgelaufen. Im unteren Drittel war das Bild einer geflügelten Išta in den Ton geprägt. Sie hatte die Arme seitlich ausgestreckt und hielt in jeder Hand ein Bündel Blitze. Auf dem Boden um sie herum lagen enthauptete Feinde. Etwas undeutlich, ganz an der linken Seite, war eine kleine Pyramide aus runden Steinen aufgeschichtet. Oder sollten es Köpfe sein?
Sorgfältig las er die Nachricht aus geronnenem Blut.
Auf das Land ohne Wiederkehr setze ich dich, auf dass Erdstaub und Steine deine Speise seien und du in Dunkelheit sitzest, wohin kein Licht kommt und wo nie das Lied eines Vogels deine Ohren erfreuen wird.
Ich selbst werde dich führen durch die sieben Tore zum Land ohne Wiederkehr.
Datames schlang die Arme um seinen Leib. Plötzlich war ihm kalt. Er ging zu seinem Lager und nahm seine Decke, um sie sich um die Schultern zu legen. Hatte wirklich Išta diese Tontafel verfasst? Hatte er die Aufmerksamkeit einer Devanthar auf sich gelenkt? Wenn sie seinen Kopf wollte, spielte es keine Rolle mehr, wie die Schlacht ausging. Sie würde kommen und ihn holen … Und sie würde erkennen, wer er wirklich war!
Immer wieder hatten ihn die anderen Meister der Blauen Halle gewarnt, dass er das Schicksal zu sehr herausfordere. Es war an der Zeit zu gehen. Er war hier nicht mehr sicher. Selbst wenn nur irgendein Handlanger Muwattas diese Zeilen verfasst hatte.
Er kehrte an den Tisch zurück und blickte auf die blutige Schrift. Wenn er fortlief, würde Ashiras Mörder niemals bestraft werden. Und niemand würde nach ihrem Leib suchen, um sie in ein würdiges Grab zu betten. Den Menschenkindern bedeutete das sehr viel. Sie gaben ihren Toten Speisen mit für jenes Land, in dem es nur Erdstaub und Steine zu essen gab, Vogelkäfige und manchmal gingen die wichtigsten Diener und die Geliebten eines bedeutenden Toten sogar mit ihm zusammen ins Grabhaus, damit ihr Herr auch im Land ohne Wiederkehr ihr Gebieter sein konnte.
»Ich werde dafür sorgen, dass auch dein Mörder in das Land ohne Licht und Vogelstimmen geht, Ashira«, sagte er bitter. Dann nahm er ihr Haupt, legte es in die Truhe zurück und verschloss den Deckel.
Er würde nicht fortlaufen. So viele Jahre lebte er nun schon am Hofe Aarons, und er hatte erlebt, wie der Unsterbliche sich verändert hatte. Diese ganze Welt konnte sich ändern, wenn er den Tyrannen Muwatta besiegte. Datames bildete sich nicht ein, dass er ausschlaggebend für Sieg oder Niederlage war. Aber wenn er jetzt davonlief, dann würden die Aussichten für Aaron schlechter werden. Um das zu verhindern, musste er den Herrscher um etwas bitten, das er ihm nur ungern gewähren würde. Und das gleich zwei Mal.
Der Elf erhob sich und griff nach seinem Wickelrock.
»Datames? Musst du dich heben aus weichem Bett. Warten wir auf dich«, erklang es vor dem Zelt.
Datames musste unwillkürlich lächeln. Das also waren die Menschen, für die er bleiben wollte, statt nach Albenmark zurückzugehen. Er musste verrückt geworden sein!
Am Ende des Weges
Nandalee erwachte von dem Gefühl, beobachtet zu werden. Alle ihre Sinne waren schlagartig wach. Nicht sofort die Augen öffnen, dachte sie. Wer immer dort war, sollte noch nicht wissen, dass sie nicht mehr schlief. Wo steckte Gonvalon? Sie konnte ihn nicht in ihrer Nähe spüren. Wo war ihr Schwert?
Da war ein vertrauter Geruch. Bärenfett? Hatten die Trolle sie gefunden?
»Nandalee? Komm, wir müssen gehen.«
»Cullayn?« Sie richtete sich auf. Ein Stück entfernt lehnte Gonvalons Schwert an einer Tropfsteinsäule. Mehr konnte sie im fluoreszierenden Licht der Höhle nicht erkennen. Nicht einmal Cullayn. Er stand irgendwo im Schatten. Warum?
Sie war nackt. Nandalee musste lächeln. Erstaunlich, wie verklemmt der Maurawan war. Sie streifte ihr langes Lederhemd über. »Was machst du hier? Wo ist Gonvalon?«
»Er schickt mich. Er macht sich Sorgen wegen der Trolle.«
Sie nahm das Schwert und schnallte den Waffengurt um ihre Hüften. »Warum sagt er mir das nicht selbst?« Jetzt sah sie Cullayn. Er stand nahe dem Ausgang aus der niedrigen Grotte.
»Er … er kämpft uns den Rückweg frei.«
»Haben die Trolle dich und Tylwyth gefunden?«
»Frag nicht so viel!«, herrschte er sie an. »Komm einfach mit. Es ist später Zeit zu reden.« Er drehte sich um und verschwand in den Tunnel.
Nandalee sah ihm verwundert nach. So hatte sie Cullayn noch nie erlebt. Ob er sich mit Gonvalon gestritten hatte?
Schweigend folgte sie ihm. Es war seltsam still im Berg, als seien alle Trolle geflüchtet. Nach Gonvalons Kampf in der Nacht wäre das nicht verwunderlich. Nie hatte sie ihn so fechten sehen! Ein warmes, wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus, als sie an ihn dachte. Und nie zuvor hatte sie ihn so leidenschaftlich geliebt wie gestern.
Sie folgte dem Geräusch von Cullayns Schritten durch die Dunkelheit, bis sie in den Tunnel gelangten, der zum gefrorenen Wasserfall führte. Dort erwarteten sie Gonvalon und Tylwyth. Ihr Geliebter sah zum Erbarmen aus. Seine Kleider waren zerrissen und mit Blut verschmiert. Das Gesicht wirkte eingefallen und ausgezehrt.
Sie drängte sich an Cullayn vorbei und schloss Gonvalon in die Arme.
»Mir geht es gut«, sagte er mit tonloser Stimme.