Sie schob ihn ein wenig von sich und betrachtete ihn skeptisch. Er war verwundet worden, aber jetzt zeigte sich, abgesehen von den zerrissenen und besudelten Kleidern, keine Spur der Verletzungen mehr.
»Ich habe ihn geheilt, so gut ich konnte«, erklärte Cullayn hinter ihr.
Nandalee drehte sich zu dem Jäger um. So gut er konnte war eine Untertreibung ohnegleichen. Gonvalon musste ernsthaft verwundet worden sein, während sie schlief.
»Das ist nicht …«, begann Tylwyth.
»Wir sollten hier nicht länger Zeit vergeuden, sondern schnellstmöglich aufbrechen«, unterbrach ihn Cullayn. »Steigen wir schnell zum Segler hinab. Der Immerwinterwurm erwacht, wenn der Nordwind kommt. Gehen wir!«
Nandalee sah ihn verwirrt an. »Wovon redest du?«
»Gonvalon hat ihn zwei Mal erschlagen.« Cullayn tauschte einen gehetzten Blick mit Tylwyth. »Aber man kann ihn nicht endgültig töten. Er erwacht wieder zum Leben, wenn der Nordwind über seinen Kadaver streicht.«
Eine Spannung lag in der Luft. Irgendetwas Unausgesprochenes. Nandalee spürte es ganz deutlich. Die drei verschwiegen ihr etwas. Etwas, das nichts mit dem Ungeheuer zu tun hatte.
»Beeilen wir uns besser«, drängte nun auch Gonvalon.
Wo war der Zauber der letzten Nacht? Kein Kuss. Nicht einmal ein zärtlicher Blick. Sie folgte ihm, versuchte ihn zu berühren. Doch er entzog sich ihr. »Später …«, murmelte er.
Ihr wurde kalt. Die wohlige Wärme in ihrem Bauch war gewichen.
Vorsichtig stiegen sie die steile Treppe mit den zu großen Stufen am Wasserfall hinab. Inmitten des schmalen Bachlaufs lag der Kadaver des Immerwinterwurms. Der Schnee war zerwühlt. Sie konnte an den Spuren sehen, dass der Kampf anders abgelaufen sein musste als am Vortag. Einige der Gliedmaßen des Wurms waren abgehackt. Sie versuchte sich vorzustellen, mit welch unbändiger Kraft Gonvalon zugeschlagen haben musste.
Vor dem Kadaver ragte Todbringer aus einem Schneehaufen. Der Bidenhänder war von Eis verkrustet. Sie nahm das große Schwert an sich. Sein vertrautes Gewicht in ihren Händen zu spüren gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Sie löste ihren Schwertgurt und gab Gonvalon seine Waffe zurück. Er sah sie so eigenartig an.
Der Schwertmeister zeigte zum Hang hinauf, auf dem er gestern gegen den Immerwinterwurm gekämpft hatte. Dort standen Hunderte riesiger Gestalten. Die Trolle des Königssteins. Schweigend blickten sie zu ihnen herab. Sie mussten sich vorhin noch im tiefen Schnee verborgen gehalten haben. Anders konnte Nandalee sich nicht erklären, sie beim Abstieg nicht bemerkt zu haben.
»Was wollen die?«, fragte Tylwyth beklommen.
Nandalee stieß Todbringer in den Boden.
»Was hast du vor?« Gonvalon war sofort an ihrer Seite.
»Ich gehe dort hinauf. Allein. Ich habe diese Sache begonnen. Ich muss sie zu Ende bringen.«
Der Schwertmeister presste die Lippen zusammen. Er wirkte so erschöpft und verletzt, dass sie ihn am liebsten in die Arme genommen hätte. Sie war erleichtert, dass er nicht versuchte sie aufzuhalten. Er kannte sie zu gut.
»Du lässt sie gehen?«, hörte sie Tylwyth hinter sich sagen. »Nach allem, was wir getan haben, um sie zu retten? Das ist …« Der Protest brach ab. Wahrscheinlich hatte Cullayn seinen Freund mit ein paar barschen Worten zum Schweigen gebracht. Nandalee wandte sich nicht um. Sie hielt den Blick fest auf die Trolle gerichtet und stieg aus dem Bachbett den Hang hinauf.
Hüte dich vor dem Mann mit dem Goldhaar
Keiner der Trolle rührte sich. Manche von ihnen waren mit Speeren und Keulen bewaffnet. Aber es waren auch ihre Weiber und deren Welpen gekommen. Welpen, so nannten sie selbst ihre Kinder. Nandalee hatte ihr Leben lang nichts als Verachtung für die ungeschlachten Hünen empfunden. Dabei waren auch sie Jäger. Und auch sie behaupteten sich in den eisigen Einöden der Snaiwamark und Carandamons.
Sie entdeckte Bromgar. Er stand auf einer Felsnase, die sich aus dem Schneefeld schob. Seinen rechten Arm hielt er dicht an den Leib gepresst. Der Stumpf war nicht verbunden. Er sah aus, als habe er ihn ins Feuer gehalten, um die Blutung zu stillen.
»Du hast Mut, Elfenweibchen.« Sosehr er auch versuchte sich zu beherrschen, Schmerz schwang in Bromgars Stimme. Soweit Nandalee wusste, wurde unter den Trollen der Kräftigste oder der beste Kämpfer König. Nachdem er eine Hand verloren hatte, waren Bromgars Tage als Herrscher vermutlich gezählt.
Die Elfe hielt ihren Blick gesenkt, so wie man es bei Raubtieren vermied, ihnen direkt in die Augen zu sehen. »Ich bin gekommen, um mich bei dir für den Mord an deinem Sohn zu entschuldigen, Bromgar, Herrscher des Königssteins.« Sie sprach mit lauter Stimme, sodass ihre Worte weit über den Hang hallten. »In meiner Tat lag keine Ehre. Ich ermordete deinen Sohn, weil er das Wild stellte, das ich lange gejagt hatte. Er war der bessere Jäger von uns beiden. Die Blutfehde, die ich beschworen habe, soll enden. Hier, auf diesem Hang.« Sie kniete nieder. »Ich lege mein Leben in deine Hand.«
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie den Troll. In dem plumpen Gesicht war kaum eine Regung abzulesen. Kurz hatte sie den Eindruck, dass seine Augen feucht schimmerten.
»Geh!«, sagte er mit rauer Stimme. »Du bist die Letzte deiner Sippe. Du sollst allein jagen. Die Einsamkeit kosten. Das ist meine Rache. Unsere Fehde ist zu Ende. Geh! Hüte dich vor dem Mann mit dem Goldhaar. Er ist nicht, was er zu sein scheint. Und warne die Elfen vom Albenhaupt. Wir töten Fremde, die in unseren Jagdgründen wildern. Es wird ein Tag ohne Wind kommen. Und wenn ihre großen Windschlitten stehen bleiben, dann werden sie lernen, dass wir ausdauerndere Läufer sind als sie.«
Nandalee sah ihn jetzt direkt an. Fürchtete er Gonvalon so sehr? Ließ er sie deshalb ziehen?
»Geh!« Er deutete mit seinem Armstumpf in Richtung ihrer Gefährten.
Wer verstand schon, was in Trollköpfen vor sich ging. Sie erhob sich. »Liuvar. Frieden!«, sagte sie beklommen. Sie hatte sich das Ende der Fehde anders vorgestellt. Mit ihrem Tod hatte sie gerechnet oder mit einem Zweikampf. Darauf hatte sie insgeheim gehofft. Aber dass ein Troll auf die Idee kommen könnte, sie mit dem Leben zu bestrafen …
Gonvalon kam ihr entgegen. Erleichtert schloss er sie in seine Arme. »Ich hätte sie …« Seine Stimme klang erstickt. »Ich …«
»Gehen wir«, riet Cullayn. »Bevor sie es sich anders überlegen.«
Sie folgten dem Jäger die Klamm hinab und weiter bis zum Versteck des Eisseglers. Nandalee sagte kein Wort mehr. Sie spürte eine Leere in sich wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie hatte gehofft, dass alles vorüber sein würde, wenn sie ein paar Überlebende ihrer Sippe gefunden oder zumindest Rache genommen hatte. Aber als sie die Trolle auf dem Hang gesehen hatte, war ihr klar geworden, dass diese Fehde niemals enden würde, wenn sie den Weg des Blutes ging. Sie müsste wieder und wieder töten, und die Trolle würden nicht aufgeben, nach ihr zu suchen oder nach anderen, die ihr etwas bedeuteten. Eine endlose Spirale des Todes.
Nun war es vorüber. Aber sie fühlte sich nicht befreit. Sie fühlte gar nichts mehr.
Gonvalon blieb immer in ihrer Nähe. Manchmal streiften seine Finger kurz ihre Hand. Er war da, ohne aufdringlich zu sein. Er störte ihr Schweigen nicht, stellte keine Fragen, auf die sie keine Antworten wusste.
Cullayn und Tylwyth setzten ihren Eissegler allein zusammen. Auch sie kamen ohne Worte aus. Als sie fertig waren, senkte sich die Dämmerung auf das weite Land. Sie schoben den Segler gemeinsam aufs Eis, verstauten ihre wenigen Habseligkeiten und vertrauten sich dem Wind an.
Bald füllte sich das Segel. Mit leisem Zischen glitten sie über den gefrorenen Fluss, der sich in weiten Kehren durch die Ebene wand. Dunkle Wolken flohen vor dem Nordwind über den tiefen Himmel. Kein grünes Licht wogte von Horizont zu Horizont. Kein Stern war zu sehen. Sie reisten in die Dunkelheit.
Ihre Trauer erfüllte sie mit süßem Schmerz. Es bedeutete nichts, dass es der Windschlitten von Duadan gewesen war, der die Trolle zu ihrer Sippe geführt hatte. Ihr Pfeil war es gewesen, der das Unglück heraufbeschworen hatte. Ein Pfeil, in blindem Jähzorn von der Sehne gelassen, hatte letztlich ihre ganze Sippe getötet.