Gonvalon trat hinter sie und legte einen Arm um ihre Taille. Er zog sie zu sich heran. Sie ließ ihren Kopf gegen seine Schulter sinken. Und plötzlich rannen ihr Tränen über die Wangen. Sie weinte still. Ohne Schluchzer. Stand reglos und kämpfte nicht mehr. Und ein einziger Gedanke erfüllte sie ganz und gar. Sie war nun die letzte Windwanderin.
Freudengeld und Geheimnisse
Der Unsterbliche Aaron blickte übellaunig auf, als er das Zelt betrat. Datames überlegte kurz, ob er sich unter irgendeinem Vorwand sofort wieder zurückziehen sollte, entschied sich aber dagegen. Was er wollte, duldete keinen Aufschub.
Er durchmaß das Zelt und stellte die längliche Truhe, die er geschickt bekommen hatte, auf den mit Tontafeln bedeckten Tisch. »Ein Geschenk an mich, edler Unsterblicher, aber der Inhalt betrifft auch Euch.«
Datames sah, wie Aaron darum rang, seine schlechte Stimmung zu unterdrücken.
»Worum geht es?«, fragte der Herrscher bemüht sachlich.
»Bitte öffnet die Truhe. Der Inhalt sagt mehr als viele Worte.«
Aaron kam seinem Wunsch nach und wandte sich mit angewidertem Blick ab, als er die abgetrennten Köpfe sah.
»Dies sind eine Wache und die junge Dame, die in mein Zelt kam, um mich zu massieren. Der Tod der Wache ist traurig, doch gehört das noch zum Vorpostengeplänkel. Ashiras Tod nicht. Das ist eine Botschaft, dass sich Meuchler in unserem Lager befinden. Sie wissen um den Tagesablauf deiner Würdenträger, wahrscheinlich wissen sie auch, was Ihr zu jeder Stunde des Tages tut. Sie können jederzeit jemanden töten, der uns nahesteht. Ja, vielleicht könnte ein Meuchler sogar bei Nacht in Euer Zelt eindringen, Unsterblicher.«
Aaron strich sich nachdenklich über den Bart. Dann schüttelte er den Kopf. »Mein Zelt ist Tag und Nacht bewacht. Ich bin nicht in Gefahr. Es geht um die anderen …«
»Bitte, Erhabener, weist das nicht so leicht von Euch. Ein beträchtlicher Teil Eurer Leibwache besteht aus Söldnern, aus ehemaligen Piraten. Seid Ihr Euch der Loyalität jedes einzelnen dieser Männer sicher? Ich halte es durchaus für möglich, dass sich ein Meuchler bereits unter Euren Vertrauten befindet.«
»Dann ist der Plan unserer Feinde, Zweifel und Unfrieden zu säen, bei dir ja bereits aufgegangen, Datames.« Er klappte die Truhe zu.
»Selbst wenn es keinen Verräter unter Euren Leibwachen gibt: Ihr seid jeden Tag unter den Männern im Lager. Ihr grabt mit ihnen. Ihr nehmt an den Wettkämpfen teil. Jeder in diesem Lager, der es nur will, kann auf Dolcheslänge an Euch herankommen, Herr.«
»Ich erwarte von jedem meiner Männer, dass er am Tag der Schlacht sein Leben für mich einsetzt, und jetzt soll ich mich wie ein Feigling ducken? Es war dein Vorschlag, dass ich ins Lager gehe, um den Bauern und Kriegern nahezukommen. Und nun willst du, dass ich das Gegenteil tue? Nein! Du hast mich auf den richtigen Weg gebracht. Das sehe ich umso deutlicher, weil Muwatta versucht, mich davon wieder abzubringen. Ich werde gar nichts ändern.«
Datames stieß einen tiefen Seufzer aus. Er schätzte Aaron, weil er solche Dinge sagte. »Ich kann Euch nicht beschützen, wenn Ihr unvorsichtig seid, Herr.«
Aaron lächelte ihn an. »Dann entbinde ich dich von dieser Verantwortung.« Er sagte das warmherzig, ganz ohne Arroganz und hörbar bemüht, auch nicht beleidigend zu klingen. »Ich werde auf mich selbst aufpassen.« Er legte die Hand auf die Truhe. »Aber wir müssen besser darin werden, die Unsrigen zu schützen. Hast du Vorschläge, Datames?«
»Wir haben fünfzigtausend Bauern und Krieger hier und einen Tross, der nach etlichen Tausend zählt. Außerdem kommt täglich ein Heer von Lastenträgern, die uns mit allem Nötigen versorgen. Vielleicht können wir es schaffen, den Meuchlern, die sich eingeschlichen haben, ihr blutiges Handwerk zu erschweren. Aber aufhalten können wir sie nicht.«
»Dann machen wir es so gut wir können«, entgegnete Aaron, den die Aufgabe mit neuem Enthusiasmus zu erfüllen schien. »Die Frauen zum Beispiel, die das Freudengeld nehmen. Können wir sie nicht alle in einem Lager zusammenfassen, das mit einem Graben und einem Erdwall umgeben wird? An die Zugänge stellen wir Wachen. Wer dort hineinwill, muss seine Waffen abgeben und sein Freudengeld zeigen. Dann kann nicht jeder zu jeder beliebigen Zeit zu ihnen.«
Datames versuchte einzuschätzen, für wie viel Unruhe das unter den Männern sorgen würde. Er wusste, manche flanierten einfach nur gerne zwischen den Zelten der Frauen, um sie anzugaffen.
»Wir sollten eine Erklärung liefern, warum das geschieht.«
»Seien wir offen«, entgegnete der Unsterbliche. »Reden wir über den Mord an Ashira. Wenn die Männer verstehen, was geschieht, wird es weniger Unmut geben. Und übrigens, dein Einfall mit dem Freudengeld war ausgezeichnet. Die Männer legen sich mehr ins Zeug. Die Stimmung ist besser. Es gibt weniger Schlägereien. Ich danke dir für deine Dienste, Datames. Auch wenn wir manches Mal aneinandergeraten … Du bist meine rechte Hand. Ohne dich würde hier das Chaos regieren.«
Datames sah seinen Herrscher überrascht an. An Lob aus seinem Munde war er wirklich nicht gewöhnt, obwohl der Unsterbliche sich in den letzten beiden Jahren sehr zu seinem Vorteil verändert hatte. »Danke, Herr.«
Die Sache mit dem Freudengeld war nur eine Kleinigkeit. Jeder, der sich bei seiner Arbeit oder bei den Kampfübungen besonders auszeichnete, bekam eine besondere Münze als Lohn, das Freudengeld. Jeden Tag wurden Tausende davon verteilt. Nur wer so eine Münze vorweisen konnte, durfte die Dienste der käuflichen Damen in Anspruch nehmen. Er zahlte damit, und die Damen wechselten die Münzen in richtiges Geld. Natürlich hielten sich nicht alle daran, aber in der Gesamtheit war sein Plan aufgegangen. Die Männer strengten sich nicht mehr nur an, weil sie Land versprochen bekamen, das sie vielleicht erhalten würden, wenn sie die Schlacht überlebten. Die Münzen waren viel greifbarer. Jeder konnte sie noch am selben Tag gegen ein paar schöne Stunden eintauschen.
»Wir sollten die Wachen außerhalb des Lagers verstärken«, fuhr der Herrscher fort. »Es muss möglich sein, den Feind an seinen Bewegungen zu hindern.«
»Es wäre günstig, wenn wir die Hirten und Jäger aus Garagum enger an uns binden könnten. Die Bauern der Provinz hat sich Muwatta schon zu Feinden gemacht. Er erlaubt seinen Männern, sich zu holen, was sie haben wollen. Die meisten Dörfer auf der anderen Seite des trockenen Flussbettes sind geplündert und niedergebrannt. Es ist eine Bitte an mich herangetragen worden, die Euch nicht gefallen wird, Unsterblicher Aaron, aber wenn wir ihr nachkommen, wird sich die Waagschale in dieser Provinz endgültig zu unseren Gunsten neigen.«
Aaron hörte ihm aufmerksam zu und schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht.«
»Ihr wisst, dass man Euch im Volk König Geisterschwert nennt. Dieser Name eilt Euch bis in die entferntesten Provinzen voraus. Nun bietet sich die Gelegenheit, einen großen Nutzen daraus zu schlagen. Ihr wollt ein Herrscher sein, der dem Volk nahe ist? Dann geht auf diese Bitte ein.«
»Lass mich einen Tag überlegen, was ich tun werde. Ich sollte das Heerlager nicht verlassen. Außerdem will ich den Mann sehen. Kommen wir nun auf das Problem mit den getöteten Wachen zurück. Hast du einen Vorschlag?«
Datames räusperte sich. »Mehr als das. Aber ich fürchte, auch diesmal wird Euch mein Rat nicht gefallen. Ich plädiere dafür, dass wir alle Wachen abziehen und unter unseren Männern verbreiten, dass es gefährlich ist, in der Nacht das Lager zu verlassen, weil Muwatta Meuchler schickt. Alle müssen begreifen, wie riskant Spaziergänge außerhalb des Lagers sind. Das ist wesentlich, denn wenn wir tun, was ich mir überlegt habe, ist jeder in großer Gefahr, der diesem Rat nicht folgt.«
Aaron strich über die Truhe auf seinem Tisch. »Ist das nicht schon jetzt der Fall?«
Datames konnte nicht widersprechen. »Es wird schlimmer werden. Bislang ist es unseren Spähern unmöglich gewesen herauszufinden, was in dem Tal hinter dem Heerlager Muwattas vor sich geht. Wir sind blind. Nun werden wir auch ihn blenden. Das verspreche ich Euch.«