»Iss auch was!«, zischte Ashot ihm zu. »Oder willst du ihn noch mehr beleidigen? Der Kerl ist Hauptmann in der Leibwache des Unsterblichen. Erinnerst du dich noch, wie wir gegen ihn gespielt haben? Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie tief wir deinetwegen im Schlamassel stecken?«
Narek konnte sich an den Kerl nicht erinnern. Für ihn sahen diese Wilden aus dem Norden alle gleich aus. Eine Traube würde er essen. Als Geste … Mehr nicht! Er würde sich der Gewalt des Barbaren nicht beugen!
Die Traube schmeckte köstlich. Süß und saftig. Eine zweite wäre kein großes Zugeständnis. Er griff noch einmal zu, genoss sie mit geschlossenen Augen und merkte erst jetzt, dass er einen Wolfshunger hatte. Die Mittagsstunde war vorüber, und außer einer Schüssel Hirsebrei im Morgengrauen hatte er nichts gegessen. Er dachte an Rahel. Wann immer es ihr möglich war, besorgte sie Honig für ihn und mischte etwas davon in seinen Brei. Sie wusste, wie sehr er süße Speisen liebte. Narek nahm sich noch eine Traube.
»Du solltest etwas von dieser roten Soße versuchen«, sagte Lamgi, tauchte einen Hirsekringel in die Soße und biss herzhaft hinein.
Narek zögerte. Er wollte von diesem Barbaren keine Geschenke! Aber wem nutzte es, wenn er als Einziger hungrig blieb. Außerdem hatte er ja auch nicht laut verkündet, dass er nichts anrühren würde. Genau betrachtet könnte man es auch so auslegen, dass er Frieden wollte, wenn er aß, und weiter auf Ärger bestand, wenn er die Gastfreundschaft des Barbaren zurückwies. Er musste etwas essen! Allein um seine Freunde vor dem unberechenbaren Zorn des Blonden zu schützen! Es wäre seine Art, für seine Gefährten zu kämpfen! Und das Essen sah einfach zu gut aus! Das war eine Schlacht ganz nach seinem Geschmack.
Narek nahm sich zwei Sesamkringel, dippte sie in die Soße und biss herzhaft hinein. Er opferte sich! Eigentlich wäre er seinen Grundsätzen treu geblieben, dachte er kauend. Aber über allem stand die Freundschaft. Er durfte die anderen nicht in Gefahr bringen … Er dippte den angebissenen Sesamkringel noch einmal in die Soße.
Der Barbar sah ihnen bei ihrem Mahl zu und lächelte. »Essen wie Löwen.«
»Wir sind Löwen«, erklärte Narek. »Die Löwen von Belbek.«
Ihr Gastgeber lächelte noch immer. »Ich nicht vergessen.«
Diese Antwort fand Narek ein wenig beunruhigend. Sie hatten die Leibwache des Unsterblichen bei dem Spiel mit den Wasserschläuchen hereingelegt. Ein sauberer Sieg war das nicht gewesen.
»Jetzt trinken, ja?« Der Barbar wandte sich an einen seiner Kameraden und schickte ihn erneut ins Lager der Frauen.
Ashot räusperte sich. »Ich möchte mich im Namen meiner Männer für deine Gastfreundschaft bedanken. Sollten wir dich vorhin beleidigt haben, so tut uns das aufrichtig leid. Wir müssen jetzt aber wieder an unsere Arbeit. Wir werden sonst Ärger …«
Der Barbar wedelte mit der Hand. »Nicht nix Ärger. In mein Land erst sich essen, dann trinken, dann Ärger …« Er pustete auf seine Faust und öffnete sie dabei. »Dann Ärger wird sich Luft. So wir machen.«
»Wir lassen ihn besser machen«, flüsterte Lamgi. »Hier stimmt etwas ganz und gar nicht. Wir sind in irgendeinen ziemlich großen Schlamassel geraten. Um uns geht es hier gar nicht.«
Narek rückte an die Seite seines hageren Kameraden. »Der Kerl hat Ashot eben ein Schwert an die Kehle gehalten. Ich dachte, er schneidet ihm den Hals durch. Natürlich geht es um uns. Wie deutlich muss das denn noch werden?«
Lamgi stieß einen Seufzer aus, wie Narek ihn häufiger zu hören bekam, wenn er mit Leuten sprach, die er noch nicht lange kannte. »Dieser Kerl ist der Hauptmann der Leibwache des Unsterblichen. Glaubst du, er hat nichts Besseres zu tun, als hier den ganzen Tag herumzustehen? Da steckt was dahinter. Irgendein großes Ding. Und wir sitzen mittendrin im Schlamassel. Ich sag dir …« Plötzlich senkte Lamgi den Kopf. »Er schaut zu uns rüber«, flüsterte er ängstlich. »Hören wir lieber auf zu reden. Es ist niemals gut, die Aufmerksamkeit solcher Männer zu wecken.«
»Da kommt in der Tat etwas Großes auf uns zu.« Ashot stieß ihn mit dem Ellenbogen und deutete auf das Lager der Frauen. Der dritte Söldner kehrte zurück. Er trug ein großes, pilzförmiges Tongefäß. Ihm folgten drei Schankmaiden. Zwei schleppten sich mit einem Krater, einem fast einen Schritt hohen Tongefäß ab. Ein bauchiges Gefäß, das sich über einem Fuß erhob, der wie ein umgestülpter Becher aussah. Zwei Henkelpaare auf beiden Seiten, die dicht am Gefäß anlagen, erlaubten es, den Krater zu tragen. Die dritte trug ein Holzbrett voller Trinkbecher.
Narek wollte aufstehen, um den beiden Mädchen zu helfen, die sich mit dem offensichtlich sehr schweren Krater abmühten, doch Ashot hielt ihn zurück. »Lass das. Für heute hast du genug angestellt.«
Der Krater wurde zwischen ihnen auf dem sandigen Boden abgestellt. Es war ein Prachtstück. Noch nie zuvor hatte Narek ein so schönes Mischgefäß für Wasser und Wein gesehen. Bei ihm zu Hause nutzten sie dafür den dickwandigen Tontopf, in dem Rahel sonst Fleisch und Gemüse schmorte, was dem Geschmack des Weins nicht immer ganz gut bekam und schon für manch hitziges Gerede gesorgt hatte.
Dieser Krater hier aber war aus rotem Ton gemacht und mit Bildern von Streitwagen und Kriegern bemalt. Die Streitwagen fuhren in zwei Reihen um den dicken Bauch des Gefäßes. Sie wurden jeweils von einem Paar sehr schlanker Pferde gezogen. Weiter oben, auf gleicher Höhe mit den Henkeln, wand sich ein Schmuckband mit marschierenden Kriegern um den Krater.
Kaum dass der Krater abgestellt war, setzte der Söldner, der ins Frauenlager gegangen war, sein seltsames, pilzförmiges Gefäß hinein. Ashot beugte sich neugierig vor. Narek hingegen zögerte, obwohl er neugierig war.
Das Holzbrett mit den Trinkbechern wurde auf den Boden gestellt. Jeder Becher hatte zwei große, geschwungene Henkel an den Seiten, sodass man ihn mit beiden Händen greifen konnte. Sie alle waren mit schwarzen Figuren bemalt. Kampfszenen zeigten Krieger auf Streitwagen, zu Fuß und auf einem Schiff, das von Krakenarmen umschlungen wurde.
»Das sind wir«, sagte der Krieger, der ins Frauenlager gegangen war. Er war ein drahtiger großer Kerl, die Wangen voller schwarzer Stoppeln. Fettiges Haar hing ihm in die Stirn. »Wir haben für den Unsterblichen in Luwien gekämpft, die weiten Steppen Ischkuzas durchquert und sind über die Himmel Nangogs gesegelt. Die Kantharoi, die Henkelbecher, die ihr dort seht, wurden von den besten Künstlern am Hof des Unsterblichen gefertigt. Jeder Kantharos trägt den Namen eines unserer Krieger auf seinem Fuß. Und jedes der Bilder auf den Kantharoi zeigt eine Heldentat aus dem Leben des Mannes, dessen Namen sie tragen.« Er hob einen der Henkelbecher hoch. Das Bild zeigte einen Mann, der einen Streitwagen auf seinen Schultern trug.
»Das ist unser Hauptmann Volodi, der über den Adlern schreitet«, fuhr der Krieger voller Stolz fort und deutete auf den blonden Barbaren. »Er hat seinen Streitwagen über ein Felssims getragen, das kaum so breit wie zwei nebeneinander gelegte Hände war. Vorbei an einem Abgrund, so tief, dass unter ihm Wolken lagen und ein Adler flog. Es ist eine große Ehre, wenn ihr eingeladen seid, aus diesen Gefäßen zu trinken. Und solchen Wein hat euch noch keiner eingeschenkt. Es ist ein exzellenter Roter von den Aigilischen Inseln.« Der Blick des Kriegers schweifte in weite Ferne. »Viele der Zinnernen kommen von dort.«
»Genug Worte«, sagte der Hauptmann. Er trat an den Krater und nahm das pilzförmige Gefäß hinaus. Darin war der Wein. Er goss den Wein in den Krater. Er war so dunkel, dass er Narek fast schwarz erschien.
Volodi nahm einen Kantharos mit dem Bild eines Kriegers, der mit abgebrochenem Speer in seiner Seite und am Boden liegend immer noch weiterkämpfte. Er tauchte ihn in den Krater und reichte ihn Narek. Merkwürdige Klumpen schwammen in dem Wein.
»Auf die Helden, die gegangen sind, und jene, die noch kommen werden«, sagte der Hauptmann feierlich. Es war das erste Mal, dass Narek ihn einen Satz ganz richtig sagen hörte. Er musste ihn schon oft gesprochen haben.