Выбрать главу

Es war wärmer hier. Der Schnee unter ihren Füßen schmatzte bei jedem Schritt. Schlamm sickerte von unten in die Spuren, die sie hinterließen.

Es gab kein Unterholz in diesem Wald. Die Baumstämme ringsherum erhoben sich wie unregelmäßig geformte Säulen. Noch bevor erste Äste abzweigten, verschwanden die Stämme in dem dichten Dunst, der stets über diesem verwunschenen Tal hing.

Kein Laut war zu vernehmen, als gäbe es nichts Lebendiges hier. Aber Tylwyth wusste, dass das nicht stimmte. Angespannt sah er sich um. Er hatte das Gefühl, belauert zu werden. Auch Gonvalon und Nandalee wirkten nervös. Sie hielten sich dicht beieinander. Manchmal beneidete er die beiden, glücklich verliebt, wie sie waren, und beschützt von einer Himmelsschlange. Für sie gab es nichts, was sie in dieser Welt fürchten mussten.

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Ein weißer Schemen glitt durch den Dunst über ihnen. Tylwyth ahnte die Bewegung mehr, als dass er sie sah. Es war unmöglich zu schätzen, was dort über sie hinweggeflogen war. Eine Schneeeule? Etwas Größeres? Sein Blick fiel auf einen Felsblock, der aus dem Waldboden ragte. Eine dicke, weiße Quarzader zog sich durch das graue Gestein. War sie letztes Mal auch schon da gewesen? Sie waren auf demselben Weg gekommen, da war er sich ziemlich sicher, auch wenn Jahre seitdem verstrichen waren. Er suchte nach anderen Zeichen ihrer Anwesenheit, doch noch konnte er nichts entdecken.

Er fürchtete sie, die sich zur Wächterin des Albensterns in diesem Tal gemacht hatte. Sie war die Einzige im Umkreis von Hunderten von Meilen, die ein Tor öffnen konnte. Doch nur wenige kamen je her, um sie um diese Gunst zu bitten.

Es gab Gerüchte, dass einigen der Bittsteller Übles geschah. Aber keine Beweise! Nur viele Gründe, auf immer zu verschwinden, wenn man sich auf die Goldenen Pfade wagte, die sich durch das Nichts spannten.

Cullayn hob warnend die Hand. Augenblicklich verharrten sie alle. Vor ihnen ging der Schneematsch in einen rotbraunen Boden aus verrottendem Laub über. Etwa zwanzig Schritt voraus hockte ein weißer Wolf und beobachtete sie reglos.

Tylwyth war versucht, seinen Bogen aus seiner ledernen Schutzhülle zu holen und eine Sehne aufzuziehen.

»Keine Waffen!«, flüsterte Cullayn, als habe er seine Gedanken gelesen.

Tylwyth sah, dass Gonvalons Rechte auf dem Knauf seines Schwertes ruhte.

Das umherstreifende Licht verschwand. Für einige Herzschläge senkte sich Finsternis auf den verwunschenen Wald. Dann war das Licht plötzlich hinter ihnen.

Der Wolf aber war verschwunden, als habe es ihn nie gegeben.

»Vorwärts! Beeilen wir uns.« Cullayns Stimme klang gehetzt. Es kam selten vor, dass sein Freund die Ruhe verlor. Etwas war hier, ganz nah und doch vor ihrem Blick verborgen. Er sah einen weißen Käfer über die Rinde der Buche neben sich klettern. Ein Mistkäfer? Nur dass er zu groß war, nicht hätte weiß sein dürfen und am allerwenigsten in dieser Jahreszeit hätte herumkrabbeln sollen.

Die Bäume erschienen Tylwyth nun fahler. Er wusste, dass es nicht an dem umherstreifenden Licht lag. Bald sah er eine bleiche Wurzel aus dem fauligen Laub ragen. Dann entdeckte er bleiche Linien in der Rinde der Bäume, als sei sie aufgeplatzt, um den Blick auf das Kernholz freizugeben.

Nandalee bückte sich plötzlich und hob etwas auf. »Das Blatt hier ist ja ganz weiß!« Sie zeigte ihnen ein halb zersetztes, löchriges Eichenblatt, weiß wie Schnee. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Ich schon, dachte Tylwyth beklommen. Im Gegensatz zu ihm wussten die beiden nur, dass Cullayn sie alle zu einem Albenstern führte. Wer dort auf sie wartete, hatte sein Gefährte wohlweislich nicht erzählt.

Die weißen Blätter auf dem Boden wurden mehr. Auch veränderten sich die Stämme der Bäume nun deutlich. Sie erinnerten an Birken. Weiß mit Streifen von Schwarz und gelegentlichen wulstförmigen Wucherungen ganz normaler Rinde. Das Normale sah an diesen Bäumen schon aus wie etwas Widernatürliches. Sie verändert das ganze Tal, dachte Tylwyth. Und sie macht jedem deutlich, hier nicht willkommen zu sein.

Um einen Baum nahe dem Wildwechsel wand sich weißer Efeu. Der Boden unter seinen Füßen war jetzt trocken. Es war angenehm warm wie an einem Frühlingsmorgen. In einer Senke kauerte ein halbes Dutzend Schneehasen. Sie sahen zu ihnen herüber und schienen keinerlei Angst zu haben. Warum auch? Über Leben und Tod in diesem Tal entschied ganz allein die Weiße Frau. Er war sich sicher, sollte er einen Pfeil auf die Sehne legen und auf die Hasen anlegen, der Schuss würde fehlgehen.

»Denk nicht einmal daran«, murmelte Cullayn. »Wenn wir hier heraus sind, gehen wir auf die Jagd.«

Nandalee sah zu ihm zurück. Sie wirkte angespannt, aber nicht ängstlich. Sie vertraute ganz und gar auf Cullayn, der ihr versprochen hatte, dass sie von hier aus in den Jadegarten gelangen würden. Sein Gefährte hatte ihr sicherlich nicht viel über die Weiße Frau erzählt. Sonst wäre sie weniger gelassen.

Sie gingen an einer Fichte vorüber, deren Nadeln weiß wie frischer Schnee erstrahlten. Der Boden unter ihren Füßen war hart. Er schob mit dem Fuß ein wenig Laub beiseite, das inzwischen überwiegend aus weißen Blättern bestand. Darunter war blanker Fels. Und auch der war weiß.

Er konnte jetzt ihre Anwesenheit spüren. Es war ein Gefühl, als habe ihn eine kalte Hand im Nacken berührt. Ein Stück voraus öffnete sich eine Höhle im Abhang. Sie war von weißen Felsen gerahmt. Die Bäume standen dort unnatürlich dicht. Ihre Stämme waren weiß wie Knochen.

Das Vorankommen wurde zunehmend schwieriger. Der Boden war vollkommen mit übereinanderwuchernden Wurzeln bedeckt, die der Höhle entgegenstrebten. Manche der Wurzelstränge waren dick wie Oberschenkel.

»Dort drinnen liegt der Albenstern«, erklärte Cullayn seinen Gefährten.

»Und was ist da noch?« In Nandalees Stimme schwang nun Zweifel mit.

»Die Hüterin dieses Tals. Sie wird euch helfen, ganz gewiss. Nachtatem erwartet dich, Nandalee. Sie wird es nicht wagen, den Zorn des Erstgeschlüpften herauszufordern, indem sie eure Rückkehr verzögert.«

Nandalee und Gonvalon tauschten einen Blick, sagten aber nichts mehr.

In der Höhle leuchtete milchig weißes Licht. Feuchtwarme Luft schlug ihnen entgegen, als sie eintraten. Boden und Wände waren ganz und gar unter Wurzeln verborgen. Der Ort erschien ihm, als würde er nicht zur Schöpfung der Alben gehören. Tylwyth spürte den kalten Griff im Nacken hier noch deutlicher als draußen. Das Licht in der Höhle zitterte wie Pulsschlag. Es ließ bizarre Schatten über die lebendig erscheinenden Höhlenwände huschen.

Tylwyth hätte jeden Eid geschworen, dass sich einige der Wurzeln bewegten.

Der Gang mündete in eine weite Höhle, in der auf einem Knoten ineinanderverschlungenen Wurzelwerks eine weiße Gestalt thronte. Ein Kleid, das wie aus feinen, weißen Haarwurzeln gesponnen wirkte, fiel von ihren Schultern herab, lag eng an ihrem zierlichen Oberkörper an und war von den Hüften abwärts ausgestellt. Wie ein Tuch lag es über einem Teil des Wurzelknotens und ließ den Betrachter im Ungewissen, wie weit die Wurzeln wohl reichen mochten.

Die Gestalt saß völlig reglos. Ihr Gesicht war hart und scharf geschnitten und so weiß wie das Wurzelwerk. Ihre Augen waren geschlossen. Langes, blütenweißes Haar fiel von ihren Schultern herab und reichte ihr fast bis zu den Hüften. Sie hätte aus Stein gehauen sein können, so wie sie da saß. Ihre Hände ruhten auf ihren Knien, die Handflächen nach oben gestreckt. Es hätte ein Bild der Harmonie sein können, wäre da nicht dieses pulsierende, weiße Licht.

»Du also bist Nandalee. Der Wind raunt deinen Namen, und selbst die Bäume wissen um dich.« Die Stimme war selbst nur ein Raunen. Tylwyth hätte nicht sagen können, ob sich die Lippen der Weißen Frau bewegt hatten. Das flackernde Licht verwischte Bewegungen.

»Wer bist du?« Nandalees Stimme war beneidenswert fest, so als beeindrucke sie diese Höhle nicht im Mindesten.

»Hier im Norden nennt man mich die Weiße Frau. Mein wirklicher Name ist für dich nicht von Belang. Du hast die Gefesselte Göttin gesehen.«