Im Lager belächelten sie ihn. Diese Narren! Nur der Zahlmeister lächelte nicht mehr, wenn er ihn sah. Er wusste, was Marwad nachts tat und wie gut er darin war.
Marwad kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, damit ihn das Weiß seiner Augäpfel nicht im Dunkel verraten konnte. Er hatte sich in der Dämmerung gründlich gewaschen. Er verströmte keinen Geruch. Er war ein Stück Ödland, solange er sich nicht bewegte. Er musste jetzt nur liegen bleiben. So hatte er es auch in den Nächten zuvor getan. Irgendwann kam einer ihrer Wächter in seine Nähe. Bevor sie noch begriffen, wie ihnen geschah, hatte er ihre Kehle durchschnitten. Dafür musste er darauf warten, dass sie so nahe kamen, dass sie fast auf ihn traten.
Marwad lauschte in die Nacht hinaus. Der Lärm im Lager Arams verebbte langsam. Er hörte das schrille Lachen einer Frau. Ein Esel schrie.
Waren da Schritte gewesen? Nein … Die Zeit verstrich. Manchmal war es schwer, nicht einzudösen. Wenn er schläfrig wurde, dachte er an seinen Vater. Die Erinnerung machte ihn immer noch zornig. Selbst nach all den Jahren. Das half. Die Erinnerung an die Hungerwinter hielt ihn wach. Er konnte ihn noch spüren, den bohrenden Schmerz in seinen Eingeweiden. So oft war er damals hungrig auf sein Lager gekrochen. Die ganze Familie hatte sein Vater darben lassen, um seine Schweine zu mästen. Denen hatte es nie an etwas gemangelt.
Er dachte an seinen kleinen Bruder, der vom Fieber geschüttelt verreckt war. Bis zuletzt hatte er dessen Hand gehalten. Sein Vater war im Schweinestall gewesen und hatte sich vor allem darum gesorgt, dass es diese Mistviecher warm hatten und sich nicht auch ein Fieber holten. Seine Schweine waren die besten der Satrapie Nari gewesen. Wenn sein Vater sie zum Markt in der Hauptstadt gebracht hatte, bekam er Preise, von denen andere Schweinezüchter nur träumen konnten. Aber von dem Geld kam fast nichts zu Hause an. Wenn sein Vater die Schweine verkauft hatte und ihm jeder auf die Schulter geklopft und ihn gelobt hatte, war er stets in Feierlaune gekommen. Aber nicht mit seiner Familie … Er hatte gesoffen, gespielt und bei Huren gelegen. Und wenn er dann heimgekehrt war, war er verkatert und übellaunig gewesen, und seine Geldbörse war leer. Und wieder lag ein Jahr voller Entbehrungen vor ihnen und die Hoffnung, dass beim nächsten Mal vielleicht alles anders würde.
Es waren zwei Sätze gewesen, die Marwads Leben für immer verändert hatten. Er würde sie niemals vergessen, selbst wenn er durch ein Wunder bis ans Ende aller Zeiten leben sollte.
Sein Vater hatte sie gesagt, an dem Morgen, als Marwad mit seinem toten Bruder in den Armen aus dem Haus getreten war, um ihn zu begraben.
Du willst ihn jetzt also an die Würmer verfüttern. Findest du nicht, dass das sinnlose Verschwendung ist?
Marwad hatte daraufhin seinen Bruder zu Boden gelegt und seinen Vater mit dem Grabstock fast zu Tode geprügelt. Dann hatte er ihn in den Stall gebracht und zugesehen, was die Schweine mit dem Mann taten, der sie mehr geliebt hatte als seine eigene Familie. Weder seine Mutter noch seine Brüder waren gekommen, um etwas dagegen zu unternehmen. Aber sie hatten ihn Mörder genannt. Ihn! Und was war sein Vater gewesen?
Marwad hatte danach sein Dorf verlassen müssen. Er war nach Isatami gegangen, um Priester zu werden und sich von seiner Schuld reinzuwaschen. Er lächelte, wenn er daran dachte, wie dumm er gewesen war. Er hatte ihnen gebeichtet, was er getan hatte. Und sie hatten ihn nicht haben wollen. Er war Bettler gewesen, hatte wieder Hunger gelitten, bis ein Bäcker ihn anheuerte, einen Konkurrenten mit dem Kopf voran in seinen Erdofen zu stoßen. Niemand hatte ihn dabei beobachtet. Es war als Unfall durchgegangen. Es hatte ihm zehn Fladenbrote und ein paar Kupfermünzen eingebracht. Damals hatte er endgültig begriffen, dass er weder zum Schweinezüchter noch zum Priester berufen gewesen war. Er hatte ein gutes Leben gehabt, auch wenn er immer wieder gejagt worden war. All das hatte ihn darauf vorbereitet, hier auf der Ebene von Kush reich zu werden.
Die Geräusche des Lagers waren inzwischen fast verstummt. Es musste weit nach Mitternacht sein. Seltsam, dass noch immer keine Wache vorbeigekommen war. Er hatte nicht in jeder Nacht Glück. Manchmal kamen die Wachen nicht nahe genug, um sie überraschend angreifen zu können, oder sie gingen in Gruppen von zwei oder mehr Mann. Heute aber war noch niemand in seine Nähe gekommen. Das war eigenartig. Fast konnte man meinen, der Unsterbliche Aaron hätte nun gänzlich darauf verzichtet, Wachen aufzustellen.
Marwad kämpfte die Versuchung nieder, sein Versteck aufzugeben und umherzustreifen. Das wäre töricht! Nur die Ruhe. Eine Stunde noch oder zwei … Und wenn keiner kam, dann würde er sich eben zurückziehen. Er musste nicht in jeder Nacht einen Kopf erbeuten.
Der Himmel hatte sich zugezogen. Es war noch dunkler geworden. Das würde seinen Rückzug begünstigen, dachte Marwad zufrieden. Er würde … Ein halb erstickter Laut erklang links von ihm. Ein Geräusch, das ihm bestens vertraut war. Das Röcheln eines Mannes mit durchschnittener Kehle, dem ein Schwall Blut in die Luftröhre drang.
Der Meuchler spannte seine Muskeln, bereit aufzuspringen. Wahrscheinlich war ganz nah einer der anderen Menschenjäger auf Pirsch, die jeden Abend aus Muwattas Lager aufbrachen. Oder hatten die Wachen Arams dazugelernt? Marwad wusste, dass einige seiner Konkurrenten in den letzten Wochen erwischt worden waren. Meist die jungen, unvorsichtigen, die schnelles Geld suchten. Aber man konnte immer Pech haben, ganz gleich, auf wie viele Jahre Erfahrung man zurückblickte.
Er lauschte in die Nacht. Das Röcheln war verstummt. Es folgte kein leises Tuscheln. Der andere Jäger war also auch allein. Marwad spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Er hatte keine Angst, aber er war angespannt.
Er drückte die Hände auf den sandigen Boden und lauschte in die Stille. Der Sichelmond trat hinter den Wolken vor. Es war, als habe jemand ein Licht in einer dunklen Kammer entzündet. Deutlich konnte er die Stümpfe des abgeschnittenen Buschwerks ringsherum erkennen, dessen Geäst längst in den Feuern des Heerlagers verglüht war. Er musterte die Silhouetten der wenigen Felsen, die durch den sandigen Boden brachen. Der größte unter ihnen erinnerte an ein auf den Strand gezogenes Fischerboot. Der Felsen direkt daneben an die Gestalt eines zusammengerollten Hundes. Der nächste erinnerte ihn an die gemauerte Feuerstelle vor dem Haus seiner Eltern.
Marwad musste unwillkürlich an seine Geschwister denken. Wie sie alle manchmal auf einer Bergweide beieinandergelegen und in die Wolken geblickt hatten. Und so wie er jetzt auf seiner einsamen Wacht den Felsen Namen gab, hatten sie darüber gestritten, welche Bilder in den Wolken zu erkennen waren.
Nachdem er Vater getötet hatte, war niemand von ihnen mehr verhungert. Ihre Schweine waren bald nicht mehr so berühmt gewesen, aber ihr Leben war leichter geworden. Er hatte Erkundigungen über sie eingezogen und ihnen manchmal auf verschlungenen Wegen Geld zukommen lassen. Hätten sie gewusst, dass es von ihm kam, hätten sie es wohl nicht angenommen. So aber freuten sie sich, dass sie ihr Vieh manchmal mit erstaunlichem Gewinn verkauften.
Ein Skorpion krabbelte ihm entgegen. Einer der großen, schwarzen, so massig wie eine Männerhand. Ihr Stich war schmerzhaft, wenn auch nicht tödlich. Das Tier ließ sich von ihm nicht aus der Ruhe bringen. Es marschierte dicht an seiner Wange vorbei. Sie waren einander ähnlich. Beide waren sie verfemte Jäger. Beide … Marwad stutzte. Der Felsen, der wie ein zusammengerollter Hund aussah, hatte jetzt einen Buckel! Da war jemand! Oder täuschte er sich? Der Buckel bewegte sich nicht. Er ließ ihn nicht aus den Augen. Die Zeit verrann. Er hätte niemals an einen Hund gedacht, wäre der Buckel vorhin schon dort gewesen.
Er sollte zurück ins Lager schleichen. Er sah schon Gespenster. Langsam stemmte er sich hoch. Der Skorpion eilte an ihm vorbei. Etwas hatte ihn aufgeschreckt.