»Gonvolon und Nodolon, so hießen zwei Brüder, dem Schwerte verschworen. War der eine wie Gold, der andere aber dunkel wie die Nacht. Beide liebten sie Andalee, die Bogenschützin, geboren zu Mittwinter im Eisrachen Carandamons. Und sie freiten um sie, der eine bei Tage, der andere aber in der Nacht. Doch ehe die Schützin entschied, schickte der König der Trolle den Immerwinterwurm, um die Elfe vor seinen Thron in den Königsstein zu schaffen. Er wollte die kühne Jägerin mit seinem Sohne vermählen und Frieden stiften zwischen den Völkern der Elfen und Trolle. Andalee aber erschlug seinen Sohn beim Hochzeitsbankett.
Gonvolon und Nodolon indes zogen aus, ihre Geliebte zu befreien. Und sie versprachen einander, sich zu helfen, bis Andalee gerettet sei, denn war Gonvolon unbezwingbar bei Tage, so galt Gleiches für Nodolon bei Nacht. Sie wussten, dass der Kampf gegen den Immerwinterwurm lange währen würde, da das Ungeheuer seine Kraft aus dem Nordwind schöpfte und sie zu einer Zeit des Jahres zum Königsstein zogen, da der Nordwind der König unter den Winden war. So versprachen sie einander, sich im Kampfe jeweils in der Dämmerung abzulösen, sodass ein jeder von ihnen nur focht, wenn er am stärksten war, und beide Gelegenheit hätten, sich von ihren Wunden und ihrer Erschöpfung zu erholen. Drei Tage währte der Kampf. In der dritten Nacht aber verriet Nodolon seinen Bruder, denn statt Gonvolon abzulösen, schlich er sich in den Königsstein, und er befreite Andalee, als der König ihr das Herz entreißen wollte, um sie in der Welt der Geister zur Sklavin seines gemordeten Sohnes zu machen. Da schenkte Andalee Nodolon ihr Herz, nach dem der Troll hatte greifen wollen, denn sie wusste nichts vom einsamen Kampf des Gonvolon. Nodolon aber brachte sie weit in den Süden in ein Tal, umstanden von grünen Bergen, und er bezog mit ihr das große Haus, das er dort errichtet hatte. Gonvolon aber kämpft noch heute gegen den Immerwinterwurm, und lauscht man dem stürmenden Nordwind, so vermag man in mancher Nacht den Klang seines Schwertes zu vernehmen, wie es auf die eisigen Schuppen des Ungeheuers schlägt.«
Drachendialektik
Gonvalon wusste, dass Nachtatem ihn nicht auf Dauer im Jadegarten dulden würde. Ihn, der einmal der Schwertmeister des Goldenen gewesen war. Niemals würde der Erstgeschlüpfte ihm vertrauen. Zugleich war der Jadegarten jedoch der sicherste Ort für Nandalee. Hier musste sie die Nachstellungen des Goldenen nicht fürchten.
Der Schwertmeister blickte über die prächtige Gartenlandschaft. Kunstvoll gestutzte Bäume breiteten ihr Schatten spendendes Astwerk über kleinen Teichen aus. Ganz gleich, wo man sich aufhielt, immer schmeichelte das Geräusch plätschernden Wassers dem Ohr. Es war ein Ort voller Frieden und Harmonie. Hier könnte Nandalee endlich zur Ruhe kommen. Sie hätte die Muße, um ihre Toten zu trauern. Wie gern würde er in diesen Stunden bei ihr sein …
Gonvalon blickte zu den Bergen auf, die das Tal einfassten und vor der Wüste schützten. Wie sollte er es anstellen zu gehen, ohne dass sie ihm folgte? Sie wollte ihn nicht verlieren. Noch nicht … Aber der Goldene hatte ihrer beider Liebe den Glanz genommen. Gonvalon glaubte nicht mehr, dass er und Nandalee für immer zusammenbleiben würden. Auch wenn er es wollte …
Plötzlich war es unnatürlich still. Noch immer erklang das Geräusch des Wassers, doch die Vogelstimmen und das Zirpen der Grillen waren verstummt. Auf einer Bank unter dem Fächerwerk der Äste einer Trauerweide entdeckte Gonvalon eine schattenhafte Gestalt. Eben noch war dort niemand gewesen, da war sich der Schwertmeister ganz sicher.
Ich wünsche Euch zu sprechen, Meister Gonvalon. Es ging ein Zwang von den Worten aus, dem er nicht zu widerstehen vermochte. Er wusste, wer ihn dort erwartete. Ihre Begegnung war unausweichlich gewesen. Es war besser, es schnell hinter sich zu bringen.
Gonvalon bückte sich unter den niedrigen Ästen hindurch und trat in den Schattenkäfig der Trauerweide. Nachtatem hatte Elfengestalt angenommen. Er war schlank und doch muskulös. Sein langes, schwarzes Haar wurde von einem mattierten Silberreif zurückgehalten. Der Erstgeschlüpfte hatte lederne Jagdkleidung angelegt. Er sah aus wie ein Maurawan.
Ihr wollt uns also verlassen, Meister Gonvalon.
Der Schwertmeister hasste es, wenn die Himmelsschlangen in seinen Gedanken lasen. Gonvalon versuchte nicht, dieses Gefühl zu unterdrücken.
»Ihr bevorzugt also ein Gespräch von Mann zu Mann, Meister Gonvalon.« Die Stimme des Drachen klang dunkel und ein wenig zu laut, so als sei er es nicht gewohnt, sich auf diese Weise mitzuteilen. Der ironische Unterton seiner Worte ließ trotz des vermeintlich großzügigen Angebotes gar nicht erst den Gedanken aufkommen, dass sie von Gleich zu Gleich sprachen.
»Ihr wisst natürlich bereits, dass ich kein Meister der Weißen Halle mehr bin«, entgegnete Gonvalon. »Ich möchte mir keinen Titel anmaßen und wäre Euch dankbar, wenn Ihr mich nicht mehr an diesen Teil meiner Vergangenheit erinnern würdet, indem Ihr mich Meister nennt.«
»Ich weiß aus Euren Gedanken, Schwertmeister, dass Ihr erwägt, das Tal zu verlassen. Ich weiß auch, was Ihr Euch einredet, um Euch die Trennung von Nandalee zu versüßen. Doch wovor flieht Ihr letztlich wirklich? Möchtet Ihr denn nicht Vater werden?«
Gonvalon kämpfte gegen seine Bitternis an. »Nicht ich werde Vater werden. Ihr wisst, was der Goldene getan hat!«
»Natürlich.«
»Seine Rache an mir wird vollkommen sein, wenn Nandalee sein Kind bekommt.«
Nachtatem sah ihn durchdringend an. »Ihr gebt einen Kampf so schnell verloren? Ich hatte Euch anders eingeschätzt, Gonvalon.«
Der Schwertmeister vermochte dem Blick der himmelblauen Augen nicht standzuhalten. Er sah zu Boden, auf das verwirrende Schattenmuster, das die Äste der Trauerweide zeichneten. Seit ihm der Goldene im Königsstein begegnet war, hatte er geahnt, dass es mit der Liebesnacht allein noch nicht zu Ende sein würde. Dass Nandalee ein Kind bekommen würde.
»Seid Ihr an Nandalees Seite, wenn ihr Kind geboren werden wird?«
Gonvalon starrte weiterhin zu Boden. Er wusste es nicht.
»Glaubt Ihr, mein Nestbruder würde an jenem Tag zu Nandalee kommen?«
Was sollte diese Frage? »Gewiss nicht!«, entgegnete der Schwertmeister gereizt.
»Dann seid Ihr der Meinung, dass es gut für Nandalee sein würde, am Tag ihrer Niederkunft allein zu sein.« Es lag kein Vorwurf in der Stimme des Dunklen. Er klang ganz und gar sachlich.
Gonvalon versuchte seiner widerstreitenden Gefühle Herr zu werden. Er wollte sich nicht vom Erstgeschlüpften manipulieren lassen, wollte eine eigene Entscheidung treffen.
»Wer ist bei euch Elfen mehr der Vater eines Kindes? Der Mann, der es zeugt, oder der Mann, der an seiner Seite ist, wenn es aufwächst? Der es prägt, der sein Vorbild ist und zugleich all das verkörpert, das es einst übertreffen will?«
Gonvalon war nicht danach zumute zu philosophieren. Es ging nicht in erster Linie um das Kind. Der Goldene hatte ihre Liebe zerstört! Seit sie die Trollhöhlen verlassen hatten, konnte Gonvalon spüren, wie Nandalee ihn im Stillen an der Nacht im Königsstein maß, auch wenn sie ihn noch nicht darauf angesprochen hatte. Er wusste, dass sie daran verzweifelte, dass sich nichts mehr so anfühlte wie in dieser einen Liebesnacht. Wie sollte er auch mit einem der acht Himmlischen mithalten können! Er würde sie immer mehr enttäuschen, und er würde es nicht ertragen, mit anzusehen, wie ihre Liebe verging. Je mehr der Erstgeschlüpfte ihn bedrängte, desto sicherer wurde sich Gonvalon, dass er Nandalee verlassen musste.