»Ich weiß um die Nacht, in der Ihr im Schnee ausgesetzt wurdet, Schwertmeister, damit die Wölfe Euch holen. Es überrascht mich, dass Ihr dasselbe tun würdet. Aber vielleicht irrte ich ja in meiner Annahme, dass das Blut der Eltern weniger bedeutend sei als die Summe aller Erfahrungen eines Lebens. Vielleicht seid Ihr doch so wie Eure Mutter, obwohl Ihr Euch immer geschworen habt, anders zu sein. Vielleicht könnt auch Ihr ein Kind einfach hinter Euch zurücklassen und Eurer Wege ziehen.«
Gonvalon vermochte seine Gefühle nicht länger zu beherrschen. Er stöhnte auf. Plötzlich war er wieder der kleine Junge, der allein im Schnee stand und die Wölfe heulen hörte. Der nicht fassen konnte, dass seine Mutter ihn zurückgelassen hatte. Gonvalon versuchte sich an ihr Gesicht zu erinnern, wie schon unzählige Male zuvor. Er hatte sie schön gefunden … Er wusste, sie hatte langes, schwarzes Haar gehabt, das wunderbar duftete. Doch wie stets blieben die Züge ihres Gesichtes nur vage. Sie hatte geweint, als sie von ihm ging. Aber sie war gegangen.
»Würdet Ihr ein Kind, das Euch braucht, im Stich lassen, Schwertmeister?«
Ungeweinte Tränen erstickten seine Stimme. Er schüttelte den Kopf. Nein, das könnte er nicht.
»Gut. Ich bezweifele zwar, dass ein Mörder ein guter Vater sein kann, aber Ihr seid allemal besser als gar kein Vater.«
Gonvalon blickte entrüstet zum Himmlischen auf. Sie waren es doch, die aus Elfen Mörder machten! Wie konnte er ihm das nun vorhalten! »Ich habe niemals Wehrlose getötet.«
»Und Adamu?«
»Er war ein Lamassu. Der mächtigste Zauberweber seines Volkes. Adamu begehrte gegen Eure Herrschaft auf. Er ließ verkünden, den Himmel seiner Schlangen berauben zu wollen. Er wollte Euch und Eure Nestbrüder stürzen. Und mehr und mehr Lamassu schlossen sich seiner Sache an. Er war der Einzige, der sie alle hätte einen können. Er war grausam und verschlagen, und er war …«
Ein Blick Nachtatems ließ Gonvalon schweigen. »Ihr müsst mir nicht aufzählen, was wir Euch sagten, um Euch für Eure Mission zu wappnen, Schwertmeister. Ich war dabei, als darüber beratschlagt wurde, wie wir argumentieren sollten, damit Ihr Euren Mord mit kaltem Herzen begehen könnt. Erinnert Ihr Euch noch, wie Ihr schließlich vor Adamu gestanden habt? Vor einem riesigen, geflügelten Stier mit einem Männerhaupt? Einer Kreatur ganz ohne Arme, mit denen sie sich gegen Euch hätte wehren können?«
»Er war ein unvergleichlicher Zauberweber«, wandte Gonvalon empört ein.
»Ich kann in Euren Gedanken lesen, Schwertmeister. Ich weiß, was Adamu im letzten Augenblick seines Lebens war. Eine erbärmliche Kreatur, gelähmt vor Angst, als sie sich plötzlich inmitten eines Palastes, beschützt von über hundert Wachen, einem Drachenelfen gegenübersah. Die Angst hat Adamu seiner Stimme beraubt, als er Eure Augen und Euer Schwert sah. Und Ihr wart nicht so dumm zu warten, bis er seine Stimme wiederfand.«
Gonvalon erinnerte sich gut. Es hatte ihn Tage gekostet, an den Wachen vorbei bis in den Inneren Palast zu gelangen Und dass er lebend wieder hinausgelangt war, war reines Glück gewesen.
»Seid Ihr unter Euren Opfern jemals jemandem begegnet, der Euch im Schwertkampf gleichgekommen wäre oder der Euch gar übertroffen hätte?«
»Ich lebe noch. Das ist wohl Antwort genug.«
»Und dennoch sagt Ihr, Ihr hättet nie einen Wehrlosen getötet.«
Wie konnte der Erstgeschlüpfte so reden? Er und seine Nestbrüder hatten ihn, Gonvalon, zu Adamu geschickt.
»Bisher, Schwermeister, haben meine Brüder und ich Euch stets klare Befehle gegeben. Ihr habt sie nie hinterfragt. Das Einzige, was in Eurem Leben von Bedeutung war, war, unsere Missionen zu erfüllen. Ihr habt Euch nichts erhofft. Ihr wart an niemanden gebunden. Und Ihr habt Euer eigenes Leben gering geachtet. Das machte Euch besonders tödlich, denn Ihr wart ohne zu zögern stets bereit, das höchste Risiko einzugehen. Ein Schwertkämpfer aber, der etwas zu verlieren hat, denkt über den Tod nach. Das bringt ihn dem Tod näher. Ich möchte nicht weniger, als dass Ihr ein anderer werdet. Verwundbar auf der einen Seite, aber weil Ihr einem eigenen Ziel folgt, werdet Ihr mit einer Ausdauer und Verbissenheit Eure neue Aufgabe angehen, die kein Drachenelf je aufbringen würde.«
Gonvalon verstand nicht. »Was erwartet Ihr von mir? Wollt Ihr mich nicht aus dem Tal verbannen?«
Zum ersten Mal lächelte Nachtatem. »Natürlich werde ich Euch verbannen. Im Jadegarten gibt es keinen Platz für Euch.« Er blickte zu den nahen Bergen. »Aber endet ein Tal nicht am Fuß der Berge?«
»Ich …« Ein kalter Blick brachte Gonvalon zum Schweigen.
»Ich wünsche, dass Ihr sehr nahe bleibt, Schwertmeister. Aber ich wünsche Euren Aufenthaltsort nicht zu kennen. Ihr wisst, meine Nestbrüder könnten in meinen Gedanken lesen. Nandalee braucht Euch. Keiner vermag sie so zu schützen wie Ihr.«
Gonvalon war verwundert. Die Argumente des Himmlischen erschienen ihm wirr. Nachtatem verachtete ihn, weil er ein Mörder war, und zugleich wünschte der Drache sich, dass er Nandalee beschützte? Ja, dass er, der Mörder, ihr Kind aufzog! Das war … »Ihr wisst um Nandalees Zukunft!«, entfuhr es Gonvalon. So ergab es einen Sinn. Es würde etwas geschehen, das seine Anwesenheit zwingend notwendig machte.
Der Erstgeschlüpfte lächelte, doch anders als beim Goldenen hatte Gonvalon nicht teil an den Gefühlen des Dunklen. »Ich wünschte, es gäbe nur eine Zukunft. Doch die Zukunft ist wie ein Baum mit unendlich vielen Ästen. Nandalees Aussichten, ihre Kinder zur Welt zu bringen, sind sehr viel besser, wenn Ihr an ihrer Seite bleibt.«
»Kinder? Sie wird mehr als ein Kind bekommen?«
»Und das von mehr als einem Vater.« Wieder lächelte Nachtatem. Ein Hauch von Spott lag in seiner Stimme. »Dies wird jedoch nicht geschehen, wenn Ihr Nandalee heute verlasst.«
»Was wisst Ihr?«
»Wenn Ihr heute geht, Schwertmeister, dann wird Euch ein langes Leben beschert sein. Ihr werdet Euch neu verlieben, und der Fluch, an den Ihr immer geglaubt habt, wird von Euch abfallen. Ihr werdet ein glücklicher Mann sein. Der Zweifel, ob es nicht im Grunde Feigheit war, dass Ihr Nandalee verlassen habt, wird der einzige Schatten sein, der über diesem Leben liegen wird.«
»Und wenn ich bleibe …«
»Dann wird Euer Leben nicht mehr lange währen.«
»Wie werde ich sterben?«
Nachtatem lachte auf. »Diese Frage ist naiv. Die Gazala haben mir Dutzende verschiedene Tode zugeraunt, die Ihr erleiden mögt. Ihr wollt sie nicht wissen. Ihr würdet ein Leben in Angst führen, wenn ich Euch davon erzählte. Nur so viel … Es gibt eine Zukunft, da wird ein Kind, das Eurem Samen entsprossen ist, über ganz Albenmark herrschen. In einer Zeit, in der die Himmelsschlangen und die Alben nur noch Legende sein werden. Es ist Eure Entscheidung, ob es sich lohnt, dafür zu bleiben.«
»Ich werde nicht gehen«, entgegnete er, ohne zu zögern. Er würde für sich einen Platz in den Bergen suchen. Wenn er nahe war, musste Nandalee dieses Tal nicht verlassen. Gonvalon war überrascht, dass Nachtatem ihn hier dulden wollte. Allerdings war unmissverständlich gewesen, dass dies nichts mit Sympathie zu tun hatte. »Warum bin ich von Bedeutung? Wenn Nandalee hier im Tal unter Eurem Schutz steht, wozu braucht Ihr mich?«
»Könnte es sein, dass Ihr nicht davon überzeugt seid, dass ich euer beider Bestes will?«
Gonvalon vermied es, darauf zu antworten. Sollte Nachtatem doch in seinen Gedanken lesen, wenn er unbedingt wissen wollte, wie er dazu stand.
»Ich mache Euch nichts vor, Schwertmeister. Wenn Ihr geflohen wärt, dann wäre Nandalee Euch gefolgt. Doch ich brauche sie. Bald schon soll sie für mich nach Nangog gehen und etwas tun, womit sie sich sowohl die Devanthar als auch die Mehrzahl meiner Nestbrüder zu unversöhnlichen Feinden machen wird.«
»Und sollte ich mich entscheiden, mit Nandalee von hier zu fliehen?«
»Eure Flucht würde mich sehr verärgern.«
Diesmal spürte Gonvalon die Gefühle des Dunklen. Es war eine kalte, wohl beherrschte Wut. Nachtatem würde sie jagen lassen. Und wie entkam man einem Drachen, der in Gedanken lesen konnte und dessen Seherinnen ihm die Zukunft vorhersagten?