Выбрать главу

Vielleicht würde sie nach der Nacht auf der Zikkurat nicht mehr so viele Freiheiten genießen. Keine der Priesterinnen hier sprach mit ihr. Ganz so, wie sie es ihnen befohlen hatte. Shaya wusste nicht, was kommen würde. Sie musste vorbereitet sein. Und es durfte nicht auffallen, dass sie das Kind tötete, das sie vielleicht empfangen würde. Ansonsten wäre der Heiratsvertrag mit ihrem Vater hinfällig, und sie hätte ihrem Volk für immer Schande bereitet.

Wieder schweifte ihr Blick über den weiten Garten. Nicht weit entfernt stand Malnigal, die stämmige Priesterin, der sie das Handgelenk gebrochen hatte. Sie stützte sich mit der Linken auf ihren Eschenstab. Die Rechte war immer noch bandagiert. Malnigal ließ sie nicht aus den Augen.

In der Laube gab es eine Steinbank. Wenn Shaya sich dort hinstreckte, verschwand sie aus dem Gesichtsfeld der Priesterin. Malnigal musste dann drei Terrassen hinaufsteigen und ein weites Stück Garten durchqueren, um nachzusehen, ob sie noch da war. Sie versäumte das niemals. Aber es verschaffte Shaya ein wenig Zeit, um sich die eine Information zu verschaffen, die ihr noch fehlte, um ihr Schicksal selbst in Händen halten zu können.

Die Prinzessin blickte zum Himmel hinauf. Die Sonne stand im Zenit. Bald würde Kara kommen. Die junge, pausbäckige Priesterin betreute den Kräutergarten. Jeden Tag zur Mittagsstunde kam sie unterhalb der Laube vorbei.

Shaya trat an die Mauer, die die Terrasse einfasste. Ein Stück der Mauer war eingebrochen und von Weinranken überwuchert. Die Stelle war für Malnigal nicht einsehbar. Ein paar Augenblicke würde sie mit Kara haben, mehr nicht. Es musste reichen.

Shaya wusste viel über Kräuter. Viel mehr, als sie je gelesen oder gehört hatte. Sie vermutete, dass dies ein Geschenk Shen Yi Miao Shous war. Sie wusste nicht, was er in der Nacht seines Todes mit ihr getan hatte, der Nacht, in der sie entrückt gewesen war. Sie konnte sich dunkel erinnern, dass er gesprochen hatte. Endlos auf sie eingeredet … Hatte er sein Wissen über Kräuter an sie weitergegeben? Und was vielleicht noch? Sie wusste, dass sie Petersiliensamen brauchte, um sie zu zerstoßen und einen Sud daraus herzustellen. Es mussten Petersilien mit glatten Blättern sein! Shaya war auch klar, dass sie bei der Herstellung des Suds sorgfältig auf die Dosierung achten musste. Geriet er zu stark, würde der Trank ihre Leber zerstören. Machte sie aber alles richtig, würde es zu einer starken Blutung kommen, und sie würde das ungeborene Kind verlieren. Sie wollte es tun, sobald sie sicher wusste, dass sie schwanger war.

Kara erschien am Ende des langen Weges, der auf die Terrasse führte. Hoffentlich bog sie nicht ab. Shaya trat von der Mauer zurück. Sie wollte die Priesterin nicht erschrecken. Sie wusste, dass die Kräuterkundige sie nach dem, was am Tag ihrer Ankunft im Haus des Himmels geschehen war, fürchtete. Kara hatte danebengestanden, als Shaya Malnigal das Handgelenk gebrochen, sie entwaffnet und Tabitha, die Mutter der Mütter, mit dem Eschenstab bedroht hatte. Sie war wie ein Tiger, den man mit Gazellen zusammensperrte, dachte Shaya selbstzufrieden und streckte sich übertrieben, sodass Malnigal es auf keinen Fall übersehen konnte. Gewiss war im Haus des Himmels noch nie eine Kriegerprinzessin auf die Himmlische Hochzeit vorbereitet worden.

Wieder streckte sich Shaya. Malnigal wusste, dass sie dies stets tat, bevor sie sich auf die Steinbank legte. Die Prinzessin konnte sehen, wie ihre Wächterin unruhig wurde.

Shaya legte sich auf die Steinbank, rollte sofort wieder herunter und kroch in der Deckung der Brüstung zum Loch in der Mauer. Neben den Weinranken wuchs ein alter Lebensbaum. Er würde sie vor den Blicken Malnigals schützen.

Als die Prinzessin Karas Schritte hörte, schlüpfte sie durch das Loch. Ehe Kara wusste, wie ihr geschah, hatte sie die pausbäckige Priesterin gepackt und hinter den Lebensbaum gezerrt. »Du sagst mir sofort, wo ich glattblättrige Petersilie finde!« Shaya wusste alles über die Pflanze, nur eines nicht: wie sie aussah!

Kara starrte sie mit angstweiten Augen an. Es waren ungewöhnliche Augen. Grün wie das junge Gras auf der Steppe mit einzelnen, hellbraunen Einsprengseln.

»Sag mir, wo ich diese Pflanze finde, oder ich breche dir das Handgelenk, so wie ich es bei Malnigal getan habe.«

»Ihr werdet die Samen nicht brauchen, Prinzessin. Ihr dürft sie nicht nehmen. Sie sind gefährlich!«

Sie hätte sich denken können, dass die Kleine durchschauen würde, was sie wollte. Schließlich war sie die Kräuterkundige des Klosters. Aber Shaya war fest entschlossen, sich nicht von ihrem Plan abbringen zu lassen. Sie griff nach Karas Handgelenk und verdrehte es.

Kara stieß einen erstickten Schrei aus. »Bitte! Ihr braucht die Samen nicht, Herrin. Seit Ihr ins Haus des Himmels gekommen seid, lässt die Mutter der Mütter Eurem Essen ein Salz beimengen, das Euch unfruchtbar macht. Ihr werdet heute Nacht nicht empfangen.«

Shaya ließ sie los. »Heute Nacht?«

Die Priesterin sah sie überrascht an. »Wisst Ihr es denn nicht? Heute ist Mittsommer. Nach dem Mittagsmahl sollen wir Euch baden und schmücken, Herrin. Am frühen Abend wird die Leibwache des Unsterblichen kommen, um Euch und die Mutter der Mütter über den Götterweg nach Isatami zu bringen.«

Shaya ließ sie los. Plötzlich war alle Kraft aus ihren Gliedern gewichen. Heute schon!

Malnigal kam um die Ecke der Terrassenmauer. »Was geht hier vor! Du weißt, dass du mit ihr nicht reden darfst, Kara. Die Mutter der Mütter wird …«

»Ich wollte von ihr wissen, wo ich Petersilie finde«, sagte Shaya matt. »Ich habe ihr damit gedroht, ihr das Handgelenk zu brechen wie dir. Aber sie hat nichts verraten.«

Die Tempelwächterin sah sie misstrauisch an. »Petersilie?« Sie schob Kara mit ihrem Eschenstab zur Seite. »Geh! Und Ihr, Prinzessin, geht bitte zurück in Eure Laube und genießt diesen wunderschönen Sommertag.« Bei den letzten Worten gelang es Malnigal nicht ganz, einen gehässigen Unterton zu unterdrücken.

Das Meer der schwarzen Schnecken

Diesmal gab es nur ein leises Scharren, als sie an dem Felsen vorbeimanövrierten, der wie ein Schwert aus der dunklen Tiefe aufragte. Ich werde besser, dachte Galar und löste seine verkrampften Hände von den Steuerhebeln. Das Boot war in einem erbärmlichen Zustand. Wasser tröpfelte durch das undichte Luk und von dem kleinen Leck, das nach dem Angriff des Tatzelwurms zurückgeblieben war. Von außen sah der Aal vermutlich noch übler aus. Gut, dass sie die Kupferplatten auf der oberen Hälfte des Rumpfes angebracht und die Schutzbügel vor dem Luk und den Seitenflossen verstärkt hatten.

Sie fuhren immer noch mit Schlagseite. Galar war sich sicher, dass Nyr und Hornbori nicht mehr an seine Geschichte vom Yngwi-Manöver glaubten, aber sie redeten nicht darüber. Der Schmied rieb sich über die Augen. Sie brannten vom angespannten Starren in die Finsternis. Licht gab es nur dort, wo Barinsteine in den Felsen eingelassen waren. Wie Leuchttürme wiesen sie ihm den Weg. Wenn er nur einen einzigen von ihnen verpasste, wären sie rettungslos in der Weite der unterirdischen Gewässer verloren.

Galar zog kurz den kleinen Barinstein aus seiner Lederhülle und betrachtete die Karte, die er neben dem Steuerplatz an die Wand gepinnt hatte. Der Schwertfels war darauf eingezeichnet. Hinter dem Felsen sollten sie dreitausendzweihundertsiebzig Kurbelumdrehungen geradeaus fahren, dann käme ein Barinstein in Sicht. Dort mussten sie dreiundzwanzig Grad nach rechts abbiegen.

Hinter ihm zählte Hornbori leise die Umdrehungen der Kurbelwelle. Galar hatte ihn dafür eingeteilt, damit er keinen Unsinn redete. Hornboris Schandmaul war damit zwar gestopft, aber es half nicht wirklich beim Navigieren. Entweder stimmte etwas mit dem Aal nicht, oder die Karte war falsch. Jedenfalls brauchten sie jedes Mal deutlich mehr Umdrehungen der Kurbelwelle als angegeben. Mit der geringeren Besatzung allein war das nicht zu erklären. Dafür war der Aal ja auch viel leichter. Dieses Tauchfass blieb Galar einfach ein Rätsel.