Glamir schnitt eine Grimasse, aber der kleine Frar hatte seinen Widerstand gebrochen. »Kommt in den Turm«, sagte er immer noch mürrisch. »Und ihr anderen. Löscht die Fackeln! Wir müssen die Schlangen nicht noch mehr reizen.«
Hornbori musste von zwei Kriegern gestützt werden. Er stöhnte bei jedem Schritt.
»Ich denke, wir werden dem Schönschwätzer den Fuß abschneiden müssen«, sagte Glamir leise. »Ich kenne mich mit so etwas aus.«
Galar hatte keinen Zweifel an diesen Kenntnissen. »Er wird eher verrecken, als etwas von sich abschneiden zu lassen.«
»Dann soll er es so bekommen.«
Nur eine einzige Fackel brannte noch. Sie gingen auf eine Tür zu, die grün angelaufen war. Kupfer wahrscheinlich, dachte der Schmied. Jetzt sah er auch zwei schmale Fenster, die ebenfalls mit Metallluken verriegelt waren. Grünes Kupferoxid hatte sich darunter in Schlieren auf dem Gemäuer abgesetzt.
»Hier sollte das Wasser eigentlich bis zur Höhlendecke stehen …«
Glamir ignorierte diese Bemerkung einfach.
Sie hatten eine kurze Treppe erreicht. Die Kupfertür öffnete sich vor ihnen. Galar trat über die Schwelle und blieb einen Augenblick lang überrascht stehen. Er blickte in einen weiten Brunnen! Hinter der Tür führte ein kaum einen Schritt weites Sims zu einer Treppe, die entlang der Innenwand des Turms nach oben führte.
Ein hölzernes Geländer, von dem die Farbe abblätterte, sicherte Sims und Treppe. Neugierig blickte Galar in den Brunnenschacht. Etwa vier Schritt unter ihnen glitzerte schwarzes Wasser im Fackellicht. Entlang des Mauerwerks zeigten dunkle Linien aus abgestorbenen Algen und Schmutz die Wasserstände der Vergangenheit, und Galar wurde klar, welches Glück sie gehabt hatten. Die Wassermarken reichten bis weit über sein Haupt hinaus. Es war Spätsommer im nördlichen Arkadien. Die Jahreszeit, in der es am trockensten war. All die Bäche und Flüsse, die die unterirdischen Seen speisten, führten nur wenig Wasser. Also war ihre Karte nicht falsch gewesen. Bei normalem Pegelstand reichte das Wasser tatsächlich bis zur Höhlendecke, und dieser Turm war ganz und gar unauffindbar. Was für ein Versteck! Von diesem Ort wussten nicht einmal die Himmelsschlangen. Er war auf keiner Karte verzeichnet.
Jetzt begriff Galar, warum sich Glamir so ungastlich verhielt. Von diesem Ort sollte niemand wissen! Wie weit würde er gehen, um sein Geheimnis zu wahren? Und warum hatte er sie vor den Weißen Schlangen gerettet, wenn er sich damit verriet? War er doch nicht der beinharte Kerl, für den er sich ausgab und von dem die Geschichten über ihn erzählten?
Glamir hatte Mühe, die Treppe hinaufzukommen. Einer seiner Handlanger hatte ihm die Krücke abgenommen, und der Schmied zog sich entlang des Handlaufes Stufe um Stufe höher.
Endlich stiegen sie durch ein Luk, ähnlich dem der Aale, in eine weite Kammer, die aus dem Felsen geschlagen worden war. Fasziniert betrachtete Galar die Vielzahl von Riegeln, mit denen das Luk gesichert werden konnte. Hielt es nicht dicht, wenn das Wasser bis zur Höhlendecke stieg, würden alle in Glamirs Turm ersaufen wie die Ratten. Ob es wohl einen Ausstieg nach oben gab? Wohl eher nicht. Gäbe es einen so leichten Zugang, wäre der Turm nicht annähernd so geheim. Aber mindestens Entlüftungsschächte musste es geben.
»Da staunt ihr, was? So was wie diesen Turm habt ihr noch nicht gesehen.«
Galar nickte geistesabwesend. Über dem Luk hingen gut gefettete Eisenketten von der Decke. Dem Ausstieg gegenüber standen fünf eigenartige Tonnen nebeneinander aufgereiht. Dicke Glasstücke waren in sie eingesetzt, und aus ihren Seiten ragten je zwei kurze Lederschläuche. Galar begriff. Unglaublich! Glamir hatte die Idee des Aals weitergesponnen. Das waren Einmannaale. Und die Zwerge, die so verrückt waren, dort hineinzusteigen, konnten ihre Arme in die Lederschläuche stecken!
»Möchtest du gerne in eines der Fässer steigen?« Kaum verhohlene Boshaftigkeit lag in Glamirs Stimme.
Galar dachte ernsthaft darüber nach. Was gab es in diesem riesigen Brunnenschacht, dass die Zwerge der Ehernen Hallen solchen Aufwand betrieben, um es heraufzubefördern?
»Onar würde niemals in so ein Fass steigen«, mischte sich Hornbori mit brüchiger Stimme ein. Er hatte die kurze Treppe hochhüpfen müssen, und sein Gesicht war von Schweiß überströmt. »Fässer schleppen, das ist seine Welt. In ein Fass zu steigen, um in diesen Brunnen hinabgelassen zu werden, würde Onar im Leben nicht einfallen. Und mir und Fundin natürlich auch nicht!«
»Was holt ihr aus dem Brunnen herauf?«
Glamir deutete auf Weidenkörbe, die zwischen den beiden einzigen Türen, die aus der Kammer führten, entlang der Wand gestapelt standen. »Das ist kein großes Geheimnis. Geh hin und sieh nach.«
Galar zögerte keinen Augenblick. Die meisten Körbe waren leer. In zweien jedoch wanden sich fingerdicke, etwa zehn Zoll lange Würmer. Sie waren schwarz wie die Nacht. Neugierig berührte der Schmied einen von ihnen. Schwarzer Schleim haftete an seinen Fingern.
»Das sind die schwarzen Schnecken, die dem Meer seinen Namen gegeben haben«, erklärte Glamir. »Wir gewinnen aus ihnen schwarze Farbe, mit der sich Leinen einfärben lässt. Wenn man es richtig anstellt, verblasst die Farbe nie. Auch Tinte kann man daraus herstellen. Wenn sie trocknet, behält sie einen feinen, samtigen Glanz. Viel besser als jede Eisengallus-Tinte.«
Galar glaubte ihm nicht, dass das schon alles war. Hier ging es um mehr als nur um Schnecken.
»Und ich dachte, alle Viecher in den unterirdischen Seen seien ganz weiß.« Hornbori war unüberhörbar um einen entspannten Plauderton bemüht. »Wie fangt ihr eigentlich die Schnecken?«
»Mit Mut!« Glamir hob seinen Armstumpf. »Das ist dort unten im Brunnen passiert. Und ich habe noch Glück gehabt. Dieses Meer verbirgt mehr Kreaturen als mancher Wald. Tatsächlich sind viele der Geschöpfe, die hier leben, weiß, aber die Laternenträger zum Beispiel schillern in allen Regenbogenfarben. Sie sind so schön, dass man alles vergisst, wenn man sie anschaut. Vor allem, dass man nicht zu weit in die Tiefe hinabdarf.«
»Laternenträger?«, fragte Nyr. »Was ist das?«
»Schlangenartige Geschöpfe, so zart, dass dein Kleiner ihnen mit seiner Faust ein Loch in den Leib schlagen könnte. Sie haben nadeldünne, hohle Giftzähne und jagen Quallen. Rechts und links ihres Kiefers hängt ein langer Fleischstrang herab, an dessen Ende wiederum eine kleine Kugel hängt, die im Dunkeln leuchtet wie ein Barinstein. Damit locken sie die Quallen an.«
»Und die haben dich deinen Arm gekostet?«
»Das waren die Smaragdspinnen – Seespinnen mit Leibern groß wie Grubenpferde. Ein eigenartiges grünes Licht umspielt sie. Wenn du dieses Licht am Grund des Brunnen siehst, weißt du, der Tod ist zu Besuch gekommen. Sie können sogar Wände hinaufklettern.«
Galar blickte auf das dunkle Wasser hinab. Außer dem Licht einer Fackel, das sich darin spiegelte, und einigen silbernen Luftblasen, die aus der Tiefe aufstiegen, war nichts Bemerkenswertes zu sehen.
»Und diese Grubenpferdspinnen kommen bis hierher in den Turm?«, fragte Hornbori beklommen.
Glamir wies auf die beiden Türen. »Dahinter seid ihr sicher. Folgt mir jetzt. Wir haben genug geschwätzt. Ihr bekommt jetzt ein schönes Quartier und etwas zu essen.«
»Habt ihr auch Milch?«, erkundigte sich Nyr.
»Natürlich. Und Rehrücken in Trüffelsoße.«
Glamir führte sie durch die linke Kupfertür und eine weitere Treppe hinauf an einer Kochstelle vorbei in eine Kammer, die nach Kohlsuppe und Schweißfüßen roch. Einige graue Decken lagen in Wandnischen. Ein Holzeimer stand in einer Ecke.
»Hier bleibt ihr fürs Erste. Ich lasse euch Essen bringen.« Mit diesen Worten schloss Glamir die Metalltür der Kammer, und es wurde dunkel. Galar hörte, wie ein Riegel vorgeschoben wurde.
»Wir sind gefangen«, stellte Nyr entgeistert fest. »So darf man mit seinen Gästen aber nicht umgehen.«