»Der lässt uns auch wieder raus.« Hornbori ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf den Boden sinken.
Galar tastete über den Boden, bis er eine klamme Decke fand, ließ sich ebenfalls nieder und wickelte sich darin ein. »Ich bin mir nicht so sicher, dass er uns wieder gehen lässt. Diesen Turm gibt es nicht wegen der Schnecken. Und Glamir schmeckt gar nicht, dass wir hierhergefunden haben.«
»Auf jeden Fall ist es hier besser als in einem leckenden Aal«, stellte Nyr fest.
Galar schüttelte den Kopf. Dann wurde er sich bewusst, dass ihn in der Finsternis dieses Verlieses keiner seiner Gefährten sehen konnte. »Das muss sich erst noch zeigen. Ich traue diesem Glamir einiges zu.« Der Schmied dachte an die Fässer mit den Lederarmen. Zu gerne wäre er in so einem Ding in den Brunnen hinabgestiegen, um zu sehen, was es dort außer schwarzen Schnecken noch zu finden gab.
Die Himmlische Hochzeit
Der helle Klang der Zimbeln war selbst in diesem Gewölbe tief unter der Erde zu hören. Shaya war herausgeputzt. Sie trug ein Kleid aus roter Seide, das nur von zwei Fibeln auf ihren Schultern gehalten wurde. Um ihre Hüften lag ein schwerer Gürtel aus gehämmertem Gold, in den unzählige Rubine eingefasst waren. Die Narben auf ihren nackten Armen waren unter Goldstaub verborgen, mit dem sie eingepudert worden war, nachdem Sklavinnen sie gewaschen und ihren Körper mit Duftölen eingerieben hatten.
Die Haut zwischen ihren Schenkeln brannte. Mit scharfen Muschelschalen waren dort und unter ihren Achseln alle Haare entfernt worden.
Shaya hatte Angst. Nie hatte sie sich so ausgeliefert gefühlt. Auf nichts von dem, was nun geschehen mochte, hatte sie noch Einfluss. Lieber hätte sie einer Horde Krieger mit nichts als einem Knüppel in der Hand gegenübergestanden, als diesen Weg gehen zu müssen.
»Er wird dich zerbrechen«, sagte die Mutter der Mütter kühl. »Es ist die höchste Ehre für ein Weib, zur Himmlischen Hochzeit erwählt zu werden. Er wird es merken, dass du voller Widerwillen bist, und grausam zu dir sein.«
»Sehe ich aus, als würde ich leicht brechen?«, entgegnete sie mit so viel Stolz, wie sie noch aufbringen konnte.
»Ich habe schon viele Mädchen in diesen Tunnel gehen sehen, Barbarenprinzessin. Jede kam verändert zurück. Jene, die mit Freuden die Begegnung mit dem Unsterblichen erwarteten, waren bei ihrer Rückkehr von seiner Kraft durchdrungen. Die anderen aber, die Unwilligen, zerstörte diese Nacht. Sie lebten noch, aber ihnen wurde ihr Geist genommen. Was zurückkehrte, war lediglich eine leere Hülle. Nun weißt du, was dich erwartet.«
Shaya blickte in das Gesicht der schlanken, alten Frau. Es war abgehärmt und von Falten zerklüftet. Dort lag kein Mitleid. Tabitha wollte nur eines – ihr noch mehr Angst machen.
»Ich werde auch diesen Kampf überleben, Tabitha, wie all meine anderen Schlachten. Und wenn ich zurückkehre, werde ich erneut die eine im Haus des Himmels sein, über die du nicht gebieten kannst.«
Ein Lächeln spielte um die schmalen Lippen der Priesterin. »Ganz gleich, was geschieht, in einem Jahr wird dein Blut den trockenen Boden Luwiens getränkt haben, und deine Asche wird über die Äcker verstreut worden sein. Ich aber werde dann wieder die uneingeschränkte Herrin im Haus des Himmels sein. Und ich werde in der Gewissheit weiterleben, in der Gunst der geflügelten Išta zu stehen und meinem Leben einen Sinn gegeben zu haben, der tiefer reicht, als lediglich Dung für Äcker zu sein. Und nun geh! Deine Stunde ist gekommen, Barbarin.«
Shaya blickte in die feisten, aufgedunsenen Gesichter der Eunuchen der Tempelwache. Sie würden sie hinauf zum Altar auf der Zikkurat zerren, wenn sie sich widersetzte. Auch wenn sie ihre Männlichkeit verloren hatten, waren sie keine Schwächlinge. Sie würde im Kampf gegen sie nicht gewinnen können. Das Einzige, was sie mit Widerstand erreichen würde, wäre geprügelt und gedemütigt dem Unsterblichen Muwatta entgegenzutreten.
Shaya trat in den Eingang des engen, von Fackeln erleuchteten Tunnels, der unter dem Palast hindurch zur Zikkurat führte. Nur als sie durch das magische Portal getreten war, hatte sie einen kurzen Blick auf Isatami, die Stadt der Tempel, erhascht. Seitdem war sie durch Tunnel und unterirdische Kammern geführt worden, vorbei an Priestergräbern, aus denen es nach Myrrhe und Weihrauch duftete, bis hin zu einem unterirdischen Bad, ganz aus Marmor, das einzig dem Zweck diente, dass sich dort einmal im Jahr die Jungfrau wusch, die vom Unsterblichen zur Heiligen Hochzeit erwählt worden war.
Ihr letzter Weg nun führte durch einen Tunnel, dessen Wände mit blutrotem Porphyr ausgekleidet waren. Erhabene Bilder waren in den Stein geschnitten. Alle zeigten einen Mann und eine Frau beim Liebesspiel auf der Spitze einer Zikkurat. Die Frauengestalten waren mit goldener Farbe hervorgehoben. Die Männer erstrahlten in Silber.
Shaya war angewidert von dem, was sie sah. Die dargestellten Paare taten Dinge, die sie sich nicht hatte vorstellen können. Es war keine Liebe in diesen Bildern. Sie zeigten lediglich Herrschaft und Unterwerfung. Oft war das Gesicht der Frau von Schmerz verzerrt. Jeder Schritt, der sie vorantrug, erfüllte sie mit neuem Entsetzen.
Bald erreichte Shaya eine Treppe. Tabitha hatte ihr davon erzählt. Mehr als zweihundert Stufen erwarteten die Kriegerin. Die alte Frau, die aussah, als habe sie in ihrem ganzen Leben noch bei keinem Mann gelegen, hatte genüsslich berichtet, dass das Treppensteigen die Jungfrauen erhitzen sollte, damit sie danach schneller zum Liebesspiel bereit seien.
Shaya richtete den Blick geradeaus und ignorierte die Reliefs an den Wänden. Sie dachte an Aaron und an den Rat, den Shen Yi Miao Shou ihr gegeben hatte. Sie war eine Kriegerin, sie würde auch diesen Kampf überstehen.
Der Lärm des Festes in der Stadt war mit jedem Schritt deutlicher zu vernehmen. Es war drückend heiß im Tunnel. Der beißende Rauch der Fackeln würgte sie und brannte ihr in den Augen. Sie hielt sich ganz gerade, das Kinn stolz vorgereckt, die Arme an die Seiten gepresst. Als sie aus dem Tunnel auf die Spitze der Zikkurat trat, war sie in Schweiß gebadet. Das Seidenkleid haftete an ihrem Körper und zeichnete jede Linie ihres Leibes nach.
Dicht vor ihr stand ein Altarstein. Auch er war aus rotem Porphyr geschnitten, geschmückt mit Szenen der Himmlischen Hochzeit. Auf den Ecken der Plattform standen kupferne Feuerschalen, in denen hohe Flammen loderten und den Altarstein in unstet tanzendes Licht tauchten.
Shaya konnte weit über die Stadt blicken. Überall brannten Lichter. Die Straßen waren gedrängt voll Besuchern, die aus allen Winden angereist waren, um dem größten Fest Luwiens beizuwohnen – ihrer Vergewaltigung. Und alle starrten sie zu ihr hinauf. So empfand sie es zumindest.
Rings um die Zikkurat lagen die Paläste der Würdenträger des Reiches. Auf den flachen Dächern wurden rauschende Feste gefeiert. Manche der Paläste waren so nah, dass sie im Licht der Tausenden von Öllampen die Gesichter der Feiernden erkennen konnte: die angemalten Fratzen der Weiber, die sich dort ohne Scham hingaben, und deren Lustschreie das Getöse der Zimbeln, Trommeln und Flöten übertönten. Und dieses Pack wagte es, sie eine Barbarin zu nennen!
Shaya blickte zum Sternenhimmel auf und dachte an Nangog. Ein Schatten erschien zwischen den fernen Himmelslichtern. Ein großer Vogel? Nein … Es war die Geflügelte Išta! Sie trug den Unsterblichen in ihren Armen, als sei er ein Kind.
Ringsherum erschollen auf den höchsten Dächern Posaunen. Der Lärm der Feste ebbte ab, bis nur noch ein Raunen zur Spitze der Zikkurat drang.
»Sei willkommen, Shaya, Prinzessin aus dem weiten Grasland der Ischkuzaia.« Muwattas Stimme war voller Macht. Sie durchdrang sie, ohne dass er geschrien hätte. Shaya war sicher, dass diese Worte bis weit in die Stadt hinaus deutlich zu verstehen waren. Vielleicht ein Zauber Ištas?
»Dies ist der längste Tag im Jahr, die Zeit der großen Sommerhitze steht bevor. Eine Zeit, die über die Ernte dieses Landes entscheidet und darüber, ob der Hunger im Winter in Hütten wie Palästen Einzug halten wird. Als Unsterblicher bin ich ein Kind des Himmels, und so, wie ich in dieser Nacht vom Himmel herabsteige, so kam ich einst, um nach der Krone Luwiens zu greifen. Du aber, Shaya, meine Braut, verkörperst das Land vom Oberen bis zum Unteren Meer, von dort, wo die Zeder wächst, bis hin zur Ebene des Weißhauptgrases. In dich will ich meinen Samen ergießen, auf dass du fruchtbar wirst, wie auch das Land fruchtbar werden wird, wenn der Zauber, den wir wirken werden, die trockenen Böden berührt.«