Lamgi gehorchte, aber er drehte sich so langsam um, dass Aleksans Zorn nur noch weiter angefacht wurde. »Er meinte das nicht so«, versuchte Narek zu schlichten. »Er hat doch nur den Helm mit mir getauscht.«
Der Hauptmann schob ihn zur Seite und musterte Lamgi vom Scheitel bis zur Sohle. Er suchte etwas, um noch mehr Öl ins Feuer zu gießen.
»Ich kann auch meinen alten Helm wieder nehmen, wenn …«
»Halt den Mund, Depp!«, zischte Aleksan ihn an. Dann deutete er auf das Messer an Lamgis Gürtel. »Was ist das? Was hast du da mit deinem Messer gemacht? Es festgebunden?«
Narek blickte auf das Messer in der schmuddeligen Lederscheide, das in Lamgis Gürtel steckte. Zwei dünne Riemchen waren über Kreuz um die Querstange zwischen Griff und Klinge geschlungen und durch Löcher in der Lederscheide gezogen. Man würde das Messer nicht ziehen können, solange die Riemen nicht entfernt waren. Von beiden hingen aus Horn geschnittene Amulette, die einen stilisierten Löwenkopf zeigten.
»Es soll nicht gezogen werden«, entgegnete der hagere Bauer ruhig.
In Aleksans Augen funkelte es triumphierend. »So ist das! Du wirst vom Unsterblichen Aaron, dem Herrn aller Schwarzköpfe, zum Krieger berufen und willst deine Waffe nicht ziehen, um in der Schlacht deinen Herrscher zu verteidigen. Das ist Verrat!« Die letzten Worte hatte er so laut gerufen, dass sie in weitem Umkreis zu hören waren.
»So ist es nicht. Du stellst es falsch dar.«
»Jetzt bin ich, Aleksan, Hauptmann der Nachtwache und Vertrauter des Hofmeisters Datames, auch noch ein Lügner, ja? Dir muss man den Kopf zurechtrücken, Bauer.«
»Ich habe das Messer im Löwentempel von Nari weihen lassen. Ich werde in der Schlacht gut kämpfen, hat mir der Priester dort gesagt, wenn die Klinge nicht aus der Scheide fährt, bevor ich den Feinden des Unsterblichen Aaron gegenüberstehe.«
»Da hast du deine Antwort«, erklang eine vertraute Stimme. Ashot! Narek hätte jubeln mögen. Einen besseren Augenblick hätte sein Freund nicht aussuchen können, um zurückzukehren.
Ashot wirkte blass. Er drückte ein ungewöhnlich langes Schwert an seine Brust, das in einer goldgeprägten, roten Lederscheide steckte. Wo hatte er das nur her? Sie hier hatten Speere mit krummen Schäften, und er bekam so was …
»Du erteilst mir keine Befehle, Ashot. Auch wenn du über hundert Mann gebietest, stehe ich als Befehlshaber der Nachtwache …«
»Ich befehlige seit einer Stunde das Bauernaufgebot der südlichen Hälfte der Provinz Nari«, erklärte Ashot feierlich und zog sein Schwert. Die Klinge war silbern, nicht bronzen wie die Spitzen ihrer Speere. »Dies Eisenschwert ist das Zeichen meiner Befehlsgewalt. Die Löwen von Belbek sind von nun an meine persönliche Leibwache, und in der Schlacht werden wir an der linken Seite des Unsterblichen Aaron Aufstellung nehmen. So wurde es soeben beschlossen.«
Aleksan gaffte zuerst das Eisenschwert an, dann Ashot. Narek konnte sehen, wie dem bulligen Krieger der Schweiß aus allen Poren trat. Auch schien der ehemalige Werber plötzlich kleiner geworden zu sein.
»Du bist in diesem Teil des Lagers nicht mehr erwünscht, Aleksan! Nicht unter den Löwen von Belbek und nicht mehr unter den Löwen von Nari, die wir von heute an sein werden.« Er hob das Schwert empor, sodass die silberne Klinge im Licht der hellen Mittagssonne erstrahlte. »Habt ihr mich gehört, Löwen von Nari?«
Narek sah seinen Freund verwundert an. Ashot war wie ausgewechselt. Er rief mit einer Stimme, so laut wie die eines Schäfers, dem gerade die Herde auseinanderlief.
»Hört ihr mich, Löwen? Wir sind die Auserwählten des Unsterblichen Aaron. Die Männer an seiner Seite. Wir, die Löwen von Nari! Wer sind wir? Ich will es hören!«
»Die Löwen von Nari!« Narek war einer der Ersten, die es riefen. Er hatte Sorge, dass niemand in Ashots Schlachtruf einstimmen würde. Schließlich war er nur ein Bauer! Aber die Männer schienen das vergessen zu haben. Sie schrien wie verrückt, immer wieder. Und Narek schrie mit ihnen, bis er heiser wurde. Es war seltsam mit dieser Schreierei. Sie veränderte ihn. Er fühlte sich stark wie ein Löwe. Und je öfter er herausbrüllte Wir sind die Löwen von Nari, desto fester war er überzeugt, dass sie auf dem Schlachtfeld bestehen würden, ganz gleich, welche Männer der Schurke Muwatta ihnen entgegenschickte. Sie waren Löwen! Furchtlos und kühn! Und sie waren aus Nari! Sie konnten gar nicht verlieren.
Ashot steckte das Schwert wieder in die Scheide, und langsam ebbte das Geschrei ab. Unzählige Männer beglückwünschten ihn, klopften ihm auf die Schultern oder scherzten mit ihm, als seien sie alte Freunde.
Narek war enttäuscht. All die anderen schienen Ashot nun wichtiger zu sein. Er wandte sich ab, um sich einen der Schilde auszusuchen, die man ihrer Gruppe gebracht hatte.
»Danke.« Lamgi kniete sich neben ihn und betrachtete ebenfalls die neuen Schilde. »Ich weiß zu schätzen, dass du unseren Nachtwächter beschwichtigen wolltest.«
Narek winkte ab. »Das war doch nicht der Rede wert. Wir sind die Löwen von Belbek. Wir helfen uns gegenseitig.«
Lamgi bedachte ihn mit einem schmalen Lächeln. »Nur dass die anderen Löwen das vorhin vergessen hatten.«
»Die hätten dir sicher auch …«
»Nein, das hätten sie nicht. Du bist ein netter Kerl. Solche wie dich gibt es selten. Ich werde in der Schlacht auf dich aufpassen.« Mit diesen Worten nahm er den kleinsten der Schilde. Einen, der aussah wie ein großer Brotfladen, aus dem jemand ein Stück herausgebissen hatte.
Narek fühlte sich etwas verlegen. Dann betrachtete er wieder die Schilde. Lamgi schien etwas von Waffen zu verstehen. Dass er den kleinsten Schild genommen hatte, wunderte Narek. Er zögerte, dann nahm er doch einen großen, mit Kuhhaut bespannten Schild, dessen Form an zwei ineinandergeschobene Schalen erinnerte.
»Den wirst du nicht brauchen.«
Narek fuhr herum. Ashot! Endlich! Sein Freund hatte ihn doch nicht vergessen. »Wie muss ich dich jetzt anreden? Kriegsherr?«
Ashot machte ein so missmutiges Gesicht, wie es wohl kein zweiter Mann im ganzen Heer zustande gebracht hätte, nachdem er gerade zum Befehlshaber einer Tausendschaft befördert worden war. »Lass den Unsinn! Ich bin Ashot. Gar nichts hat sich geändert. Komm mit mir, wir müssen in Ruhe reden.«
»Feiern müssen wir«, entgegnete Narek ausgelassen. »Ich habe noch zwei Münzen. Freudengeld. Eigentlich wollte ich sie Daron als Andenken mitbringen. Aber heute ist ein Tag für Freudengeld. Ich bring ihm einen luwischen Helm oder ein schönes Messer mit.«
»Leg den Schild weg.« Ashots Stimme zitterte.
Was hatte er denn? Er war auch immer noch leichenblass.
»Das ist der beste von allen Schilden hier. Er schützt mich vom Knie bis zum Kinn.« Mit diesen Worten klemmte Narek ihn sich unter den Arm. Wenn er ihn nicht mitnahm, dann würde ihn sich einer der anderen Löwen schnappen.
Ashot ließ ihn gewähren, dann führte er ihn bis zum trockenen Flussbett. Unter ihnen ließ ein Hauptmann eine seltsame Übung durchführen. Jeder seiner Männer musste einen anderen auf den Rücken nehmen, und dann bekämpften sie einander, als seien sie Reiter. Das sollten sie auch mal machen, fand Narek. Die Kerle dort unten hatten Spaß, auch wenn sie ganz schön ins Schwitzen gerieten.
»Ich wollte das nicht«, begann Ashot unvermittelt. »Ich habe nichts dazu getan. Ich musste zu der Abstimmung gehen. Alle Anführer der Hundertschaften waren dorthin befohlen … Ich hatte wirklich keine Ahnung!«
Narek verpasste ihm einen freundschaftlichen Knuff in die Rippen. »Jetzt übertreibst du aber. Du bist ein bedeutender Mann geworden. Freu dich doch!«
»Darüber, an der Seite des Unsterblichen zu kämpfen?« Jetzt klang ein Anflug von Panik in Ashots Stimme. »Ja, begreifst du denn nicht? Die Luwier werden seinen Kopf wollen. Dort, wo der Unsterbliche steht, wird am härtesten gekämpft werden. Bestimmt wird Muwatta seine Leibgarde schicken, um uns niederzumachen!«