»Das sind bestimmt die Katzenmänner. Die schneiden jedem den Kopf ab.«
»Aber nicht auf dem anderen Ufer. Das betreten sie nicht.«
»Woher willst du das wissen? Ich glaube …« Narek stockte. »Entschuldige. Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass du jetzt ein Heerführer bist.«
»Das bin ich auch nicht!« Es war wirklich nicht leicht, mit Narek die Fassung zu bewahren.
Ashot hasste seine neue Pflicht. Sie hatten ihn überrumpelt, als er zum Anführer der Tausendschaft aus dem südlichen Nari gewählt worden war. Er fühlte sich dem nicht gewachsen. Er fürchtete nicht die Luwier. Er fürchtete die schreckliche Verantwortung. Er musste ein Vorbild für tausend sein. Dazu taugte er nicht! Morgen würden Männer, die seinen Befehlen gehorchten, sterben! Wenn er nur daran dachte, wurde ihm schon jetzt ganz schlecht. Männer, die er nicht einmal vom Sehen kannte, würden in den Tod gehen. Und wenn er Fehler machte, dann würde es ein Massaker werden. Und er würde Fehler machen, da war er sich ganz sicher. Er wusste nicht, wie man tausend Krieger führte. Erst vor wenigen Wochen hatte er selbst das erste Mal ein Schwert in Händen gehalten, und jetzt sollte er Schlachten lenken.
Ashot griff in den dicken Lederbeutel, der um seine Hüften geschlungen war, und zog eine der bronzenen Fußangeln heraus. Er ließ sie vor sich auf den Boden fallen und drückte sie mit dem rechten Fuß vorsichtig in den Sand. Er trug Holzschuhe wie alle, die von Datames in das Flussbett geschickt worden waren.
Eine Weile gingen sie beide schweigend ihrer Arbeit nach. Ashot dachte daran fortzulaufen. Wenn er sich jetzt davonschlich, würde ihn vor der Schlacht gewiss keiner mehr finden. Und danach … Wahrscheinlich würde Muwatta siegen. Dann interessierte nicht mehr, wer fortgelaufen war.
Ashot blickte aus den Augenwinkeln zu Narek. Der Narr würde ganz bestimmt bleiben. Ihn brauchte er erst gar nicht zu fragen, ob er abhauen wollte. Er dachte daran, wie sehr Rahel ihn bedrängt hatte, auf ihren Mann aufzupassen. Um ihn hingegen hatte sie sich keine Sorgen gemacht. Dabei war auch er kein Krieger, und ein Kerl wie Volodi könnte ihn ohne Mühe in weniger Zeit in Stücke schneiden, als man brauchte, um einen Bissen trockenen Fladenbrots zu kauen.
»Ich wünschte, es wäre schon morgen Nacht«, sagte Narek leise. »Ich habe Angst.«
»Du wirst einen sicheren Platz …«
»Das will ich nicht«, unterbrach ihn sein Freund überraschend heftig. »Ich stehe meinen Mann wie jeder andere auch. Du wirst mich nicht unter irgendeinem Vorwand ins Lager abschieben!«
»Du solltest mich ausreden lassen. Morgen früh wird der Unsterbliche uns ein Feldzeichen überreichen. Einen goldenen Löwenkopf auf einer Stange. So weiß jeder, wo die Löwen von Nari stehen. Und sollte die Linie durchbrochen werden, rücken wir alle um den Löwen zusammen. Es ist eine Aufgabe für einen Mann von Mut und Ehre, dieses Feldzeichen zu tragen. Meine Wahl ist auf dich gefallen. Ich wüsste keinen Besseren. Du wirst es mit deinem Leben verteidigen! Bestimmt werden die Luwier versuchen, es uns zu entreißen.« Was er ihm nicht sagte, war, dass der Standartenträger in der dritten oder vierten Reihe stehen würde. Also in relativer Sicherheit, sofern es auf einem Schlachtfeld überhaupt einen sicheren Ort gab.
»Ich weiß nicht … Sollte das nicht lieber ein richtiger Krieger machen? Was, wenn ich angegriffen werde? Du weißt, dass ich mich bei den Kampfübungen nicht gerade hervorgetan habe.«
»Ich brauche für die Standarte einen Mann mit dem Herzen eines Löwen. Einen, dem ich zutraue, dass er noch steht, wenn alle anderen weichen würden. Das traue ich allein dir zu, Narek.«
Sein Freund stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Wenn du meinst, dass ich wirklich der Einzige bin … Aber pass bitte auf mich auf. Mir scheint, du hast mehr Vertrauen in mich, als ich selbst es habe.«
»Du wirst sehen, unsere Aufgabe heute Nacht ist gefährlicher als das, was dich morgen erwartet.« Ashot versuchte so zuversichtlich wie möglich zu klingen, dabei hatte er selbst kaum Hoffnung. Aaron würde inmitten seiner Tausendschaft stehen, und die Luwier würden sie heimsuchen wie Fliegen einen frischen Haufen Scheiße.
»Wusstest du, dass sie diese Dinger Krähenfüße nennen? Die Fußangeln«, setzte Narek nach, als er nicht sofort eine Antwort bekam.
»Hab noch nie Krähen mit goldenen Füßen gesehen«, murmelte Ashot und trat eine weitere Fußangel in den Sand.
»Wenn du einer Krähe die mittlere Kralle abschneiden würdest, würde ihr Fuß tatsächlich so ähnlich aussehen. Wer sich so was nur ausdenkt … Diese Fußangeln, meine ich. Ganz schön heimtückisch. Morgen Abend werden nicht wenige Luwier hinken. Arme Kerle.«
Ashot traute seinen Ohren nicht. Ihm wäre es im Traum nicht eingefallen, Mitleid mit irgendeinem Luwier zu haben. Die waren hier, um Narek und ihm die Kehle durchzuschneiden. Was sie brauchten, wären noch mehr solcher heimtückischer Tricks. Und überhaupt, wer morgen Abend noch hinken konnte, gehörte zweifellos zu denen, die sich glücklich schätzen durften. Ashot beneidete Narek um dessen Gabe, sich die Dinge schönzureden. Sicherlich lebte sein Freund in einer glücklicheren Welt.
Schweigend legten sie die letzten Krähenfüße aus und zogen sich dann aus dem Flussbett zurück. Die Arbeiten an der Uferböschung waren abgeschlossen. Sie war nicht steiler geworden, aber die Erde und das Geröll waren aufgelockert, sodass man keinen festen Stand fand. Wer über die Böschung angriff, würde es nicht leicht haben.
Plötzlich musste Ashot grinsen. Das war seine Welt! Ihm gefiel, was er sah. Er mochte es, wenn seine Feinde litten. Sollten sie verrecken, die verdammten Luwier!
Die Ehernen Hallen
Hornbori blickte über den Hafen der Ehernen Halle. Über eine Stunde warteten sie nun schon auf dem Kai. Sie waren mit einem Aal, der Glamirs Turm mit Vorräten versorgt hatte, hierhergekommen, nachdem sie dort einige Tage eingekerkert gewesen waren. Anders konnte man es beim besten Willen nicht nennen! Sie waren eingesperrt gewesen und hatten nur miserables Essen bekommen.
Hornbori hatte die Zeit genutzt, um seinen beiden Gefährten einzubläuen, wie wichtig es war, dass ihre erfundenen Geschichten zusammenpassten. Immer wieder war er ihre erdachten Lebensläufe mit ihnen durchgegangen. Hornbori, Galar und Nyr waren in der Tiefen Stadt gestorben. Sie waren jetzt Hreidmar, Onar und Fundin. Kein Bergfürst, der noch bei Verstand war, würde die drei Zwerge, um derentwillen die Tiefe Stadt vernichtet worden war, bei sich aufnehmen. Wenn sie viel Glück hätten, würden sie lediglich in die Wildnis verbannt. Wahrscheinlicher aber würde man sie an die Himmelsschlangen ausliefern.
Hornboris Blick wanderte über die weiten Hafenanlagen. Die Ehernen Hallen waren ganz anders als die Tiefe Stadt. Der Hafen war dunkel, zur Beleuchtung dienten Fackeln und Öllaternen. Ruß hing in der Luft, der bald schon in der Kehle kratzte. Der Rauch ließ die Augen tränen. Die Decke der Grotte, die mit Wasser geflutet worden war, erhob sich kaum zwei Schritt über ihre Köpfe. Alles hier wirkte beklemmend und schmutzig. Rotbraune Schlieren zogen sich über den hellen Stein. Die Zwergenstadt war berühmt für ihre reichen Erzvorkommen. Auch lieferten die umliegenden Wälder reichlich Bauholz und Wild. Doch reich waren sie nicht, die Zwerge, die hier lebten.
Hornbori war froh, dass seine Familie kaum Handelsbeziehungen hierher unterhalten hatte. Er war nur ein einziges Mal hier gewesen, und er war sich ganz sicher, dass sich niemand mehr an ihn erinnerte. Das war auch gut so.
Nyr hatte Frar einen Finger in den Mund gesteckt. Der Kleine hatte wieder Hunger. Es war erstaunlich, wie gut die beiden miteinander auskamen. Um sie musste Hornbori sich keine Sorgen machen. Nyr bekam ohnehin kaum die Zähne auseinander. Er würde nichts ausplaudern. Ganz anders als Galar. Der Schmied kauerte auf einer dicken Taurolle und blickte missmutig in das schmutzige Hafenwasser. Hoffentlich beherrschte er sich. Es war schwer gewesen, ihm klarzumachen, dass er in absehbarer Zeit wohl kaum seine Forschungen über Koboldkäse und Drachenblut wieder würde aufnehmen können.