Hornbori betrachtete nachdenklich seine unverwundbare Hand. Es gab niemanden, der es mehr bedauerte als er, wenn es mit Galars Versuchen nicht weiterging. Aber sie würden sich verraten, wenn sie diesen Weg beschritten. Sie mussten warten. Ein paar Jahre wahrscheinlich. Hornbori seufzte. Seine Hoffnungen auf den Thron der Tiefen Stadt waren zusammen mit der Höhlenstadt gestorben. Hier, in den Ehernen Hallen, war er nur ein mittelloser Niemand.
Endlich kehrte der Steuermann ihres Aals zurück, ein mürrischer, glatzköpfiger Zwerg mit breiter, schiefer Nase. »Eikin, der Alte in der Tiefe, will euch sehen. Er möchte aus erster Hand hören, wie euch die Flucht aus der Tiefen Stadt gelang. Er will wissen, ob ihr Helden oder Feiglinge seid.«
»Feiglinge erschlagen keine Tatzelwürmer«, murmelte Galar bedrohlich und wies auf die Kralle, die auf ihren beiden Rucksäcken lag.
»Stimmt«, entgegnete der Steuermann streitlustig. »Sie schneiden sie von Kadavern ab.«
»Noch so eine Frechheit, und du wirst sehen, was ich von dir alles abschneide, bevor du zum Kadaver wirst.« Galar war aufgestanden.
Hornbori kannte das rauflustige Glitzern in den Augen seines Gefährten nur zu gut. Er drängte sich zwischen die Streithähne. »Ich bin mir sicher, dass Eikin nicht gerne wartet.«
Ihr Steuermann grummelte etwas Unverständliches, dann wandte er sich von Galar ab. »Kommt. Der Alte in der Tiefe erwartet euch in einem der Erzlager.«
Sie gingen die Hafenmauer entlang. Wieder staunte Hornbori, wie viele Anlegeplätze für Aale es hier gab. Überall stapelten sich Waren. Kisten, die mit ihrer seltsamen Form dem ovalen Rumpf der Tauchboote angepasst waren. Kleine Säcke für die Netze unter der Decke der Boote. Hornbori strich im Vorübergehen über einen der Säcke. Er schien mit Erbsen oder Bohnen gefüllt zu sein. Damit trieb man keinen Handel! Jedenfalls nicht, wenn die Waren in Aalen transportiert werden mussten. Das war viel zu kostspielig! Das waren gewiss Vorräte für irgendeinen Außenposten. Er blickte wieder über die Flotte der Aale, die an den ausgedehnten Kaianlagen der Grotte vor Anker lagen. Was für eine Politik verfolgte der hiesige Alte in der Tiefe? Gründeten die Zwerge der Ehernen Halle etwa Siedlungen? Oder gab es noch mehr verborgene Türme wie den von Glamir?
Der Steuermann bog scharf nach links ab und brachte sie an ein großes, von braunem Flugrost überzogenes Eisentor. Er klopfte drei Mal mit dem Knauf seines Dolches gegen das Tor. Hornbori bemerkte, wie einige Hafenarbeiter sie neugierig beobachteten.
Knirschend schwang das Tor einen Spaltbreit auf.
»Ich warte hier«, erklärte der Steuermann mit ausdrucksloser Miene.
Hornbori tauschte einen Blick mit Galar. Augenscheinlich missfiel dem Schmied diese Wendung ebenso sehr wie ihm. Was sollte diese Geheimnistuerei? So hätte man in der Tiefen Stadt keine Flüchtlinge empfangen!
Beklommen trat er durch den Spalt in eine Höhle, in der Tausende Eisenbarren lagerten. Drei Zwerge erwarteten sie im gelben Licht einiger Blendlaternen. Alle stützten sie sich auf große, zweihändig zu führende Hämmer. Der mittlere war ein Graubart unbestimmten Alters. Sein langes Haupthaar war an den Schläfen zu dünnen Zöpfen geflochten. Tabakflecken verunzierten seinen Bart. Vorüberziehende Jahrzehnte hatten sein Gesicht verwittern lassen, doch trotz der Falten lag eine unnachgiebige Kraft und Härte in diesem Antlitz, beherrscht von einem Paar stahlblauer Augen. Die beiden Zwerge an seiner Seite mochten Leibwächter sein. Sie hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Graubart, doch war ihr Haar noch schwarz. Einer von ihnen trug die Schürze eines Schmiedes, der zweite ein knielanges Kettenhemd.
Hinter Hornbori schloss sich das Tor mit einem metallischen Dröhnen. Beklommen blickte der Zwerg zurück. Nyr und Galar waren ihm gefolgt.
»Ihr kommt also aus der verfluchten Stadt«, stellte der Graubart fest.
»Solltet Ihr damit meine vom Unglück heimgesuchte Heimat, die Tiefe Stadt, meinen, so kann ich nur zustimmen«, entgegnete Hornbori höflich. Dieser Empfang war deutlich kühler, als er erhofft hatte.
»Ich habe bereits Kunde von den Ereignissen in der Tiefen Stadt. Was mich wundert, ist, dass jetzt, so lange nach der Katastrophe, Überlebende hierherfinden. Ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr mir erklären könntet, wer ihr seid und wie ihr hierherkamt.«
»Selbstverständlich werde ich gerne Auskunft über …«
»Nein, nicht du«, unterbrach ihn der Graubart. »Dir gehen die Worte allzu leicht von den Lippen. Ich möchte eure Geschichte von ihm hören.« Er deutete auf Nyr.
Der Richtschütze räusperte sich nervös und sah erst zu Galar, dann zu ihm. »Wir haben nichts zu verbergen, Fundin«, sagte Hornbori und hoffte, dass sich sein Freund noch an die Lügengeschichte erinnerte, die sie ersonnen hatten. Sie wollten, so nah es ging, bei der Wahrheit bleiben.
Nyr war kein guter Erzähler. Er berichtete stockend und sah immer wieder zu Galar, so als wolle er sich vergewissern, dass der Schmied seinen Worten zustimmte. Er blieb bei ihren falschen Namen und behauptete, sie seien bei Arbeiten im Inneren eines Aals auf der Werft von Hornboris Sippe von dem Angriff überrascht worden. Er schilderte, wie sie das Tor der Werft verschlossen, den Aal instand setzten und knapp den Tatzelwürmern entkamen.
Die drei Zwerge hörten zu, ohne ihn zu unterbrechen.
Hornbori ließ den Ältesten nicht aus den Augen. Die Miene des Graubarts zeigte keinerlei Regung. Es war unmöglich, an ihr abzulesen, ob er Nyr glaubte.
»Und was ist das für ein Kind?«, fragte der jüngere Zwerg in der Schmiedeschürze, nachdem Nyr geendet hatte.
»Mein Sohn.«
Hornbori zuckte innerlich zusammen. Das war so nicht vereinbart gewesen. Dafür gab es keine plausible Erklärung.
»Du nimmst deinen Sohn, ein Kleinkind, mit in einen undichten Aal, an dem du Reparaturen ausführen musst?« Der Graubart schüttelte den Kopf. »Ungewöhnlich. Das ist …«
»Mein Kleiner liebt das Geräusch von Hämmern. Er war krank. Er hatte Fieber. Und ich wollte ihm eine Freude machen.« Nyr tätschelte Frar über den Kopf. »Du liebst es, wenn Papa Dong, Dong macht, nicht wahr?«
Der Kleine gab ein freudig glucksendes Geräusch von sich, und dann sagte er zufrieden: »Dong, Dong.«
»Er möchte Schmied werden, wenn er groß ist«, erklärte Nyr so überzeugt, dass Hornbori sich fragte, ob der Richtschütze sich inzwischen vielleicht wirklich für den Vater des Jungen hielt.
Der Alte schmunzelte. »Schmiede haben wir hier nie genug. Willkommen in meiner Stadt, Fundin. Du und deine Freunde, ihr werdet hier ehrliche Arbeit und Unterkunft finden. Ich bin Eikin, der Alte in der Tiefe der Ehernen Halle.« Er gab dem Zwerg im Kettenhemd einen Wink, woraufhin dieser sich entfernte.
»Wir sind erleichtert, dass unsere Flucht nun endlich ein glückliches Ende gefunden hat«, erklärte Hornbori. »Wir werden Euch Euren Großmut niemals vergessen, edler Eikin.«
Freundlich erkundigte sich der Bergfürst, wie ihre Wunden heilten, und tätschelte Frar, den zukünftigen Schmied. Hornbori war erleichtert. Zum ersten Mal, seit man sie auf dem Kai festgehalten hatte. Sie würden mit ihrer Geschichte durchkommen und ein neues Leben beginnen. Es war, als seien sie ein zweites Mal geboren worden.
»Hornbori?«
Der Zwerg im Kettenhemd war zurückgekehrt. An seiner Seite ging eine Zwergin in einem roten Kleid, das ihre Taille betonte und dessen tiefes Dekolleté ihre üppigen Brüste zur Geltung brachte. Amalaswintha! Sie strich sich eine Strähne ihres rabenschwarzen Haars aus dem Gesicht und schenkte ihm ein Lächeln, das ihn bezaubert hätte, hätte sie ihn nicht gerade mit einem einzigen Wort vernichtet.
Der Bergfürst fixierte ihn mit seinen stahlblauen Augen. »Du hast mich belogen! Du heißt nicht Hreidmar, sondern Hornbori Drachenfaust.«
Wie eine Blume an einem schattigen Ort