Der Alte aus der Tiefe stieß ärgerlich seinen Hammer auf den Boden. »Ihr kommt in meine Stadt und lügt mich schamlos an. Gut, dass ich euch hier und nicht in meinem Thronsaal empfangen habe.«
Amalaswintha hatte ihn gewarnt, sie hatte sich die drei auf dem Kai angesehen und ihm gleich gesagt, wer sie waren. Und sie hatte ihn davor gewarnt, dass sie ihn belügen würden. Eikin hatte ihr nicht geglaubt. Warum sollte der große Hornbori Drachenfaust sich hinter Lügen verstecken? Er war wahrscheinlich der bedeutendste lebende Held aller Zwergenvölker. Jeder hier in den Ehernen Hallen kannte die Geschichte, wie er den großen, weißen Drachen erschlagen hatte.
Einen solchen Helden in der Stadt zu haben hätte ein Ärgernis werden können, wenn das nächste Mal darüber abgestimmt wurde, wer auf zehn Jahre der Alte in der Tiefe sein sollte. Aber durch seine Lügengeschichten hatte sich der Trottel ihm ganz und gar ausgeliefert.
»Ihr glaubt also, ihr könnt hierherkommen und mich mit euren Lügen verhöhnen?«
»Das war nicht im Mindesten unsere Absicht, ehrwürdiger …«
»Schweig!«, herrschte er Hornbori an. »Ich sollte euch in Ketten legen oder besser noch auf irgendeiner einsamen Insel in einem abgelegenen Höhlensee aussetzen lassen. Wenn bekannt wird, dass ihr hier seid, werden die Himmelsschlangen vielleicht auch über diese Stadt herfallen.«
»Wir wollten nicht …«, wagte der Schmied mit dem kümmerlichen Bärtchen ihn zu unterbrechen.
»Keine Sorge, ich werde euch ganz gewiss nicht an die Himmelsschlangen ausliefern. Zwerge regeln ihre Angelegenheiten unter sich. Alle Welt hält euch für tot. Wenn ich euch in Ketten geschlagen in einem tiefen Höhlensee versenken lasse, wird euch niemand vermissen.«
»Du wirst den größten Schatz unseres Volkes versenken«, entgegnete Hornbori mit einer Selbstsicherheit, die ihrer verzweifelten Lage ganz und gar nicht angemessen war.
»Du hältst dich für so wertvoll? Etwa weil deine Hand unverwundbar ist?«
»Ich spreche nicht von mir.« Er deutete auf den Schmied. »Ich weiß, dass meine Talente ersetzbar sind. Aber ein Mann wie Galar wird unseren Völkern vielleicht einmal in zehn Generationen geboren. Er hat einen der großen Drachen vom Himmel geholt. Und er kann es wieder tun. Wie stellt Ihr Euch die Zukunft unserer Völker vor, Eikin? Werden wir den Himmelsschlangen das Massaker in der Tiefen Stadt verzeihen? Werden wir uns demütig ihren Befehlen beugen? Entspricht das dem Charakter der Zwerge aus den Ehernen Hallen?«
»Meinem Charakter entspricht es, meine Stadt um jeden Preis zu beschützen, und sollten meine Ehre und mein Gewissen dabei Schaden nehmen, so nehme ich das in Kauf.«
»Bitte, Eikin, sie sind die Letzten meines Volkes.« Amalaswintha ging vor ihm in die Knie, wohl darauf bedacht, ihr tief ausgeschnittenes Dekolleté zur Geltung zu bringen. Eine Zwergin wie sie war ihm noch nie untergekommen. Vollkommen sittenlos und fast unwiderstehlich. Ihr war es bestimmt zu herrschen. Erst vor drei Tagen hatte sie eine Gruppe von Schürfern zu einer Goldader nur einen Tagesmarsch entfernt geführt. Niemand hatte je zuvor in der Nähe der Ehernen Halle Gold gefunden. Ihr würde ein Drittel der Einnahmen dieser Mine gehören. Eikin wusste, welche Rolle sie in der Tiefen Stadt gespielt hatte. Wie mächtig sie geworden war. Sie würde diesen Weg auch hier nehmen. Wenn sie blieb, würde sie unvermeidlich seine Autorität untergraben.
»Was genau wäre denn dein Wunsch, meine Liebe?« Eikin lächelte. Sie schaffte es, in ihm ein Feuer zu schüren, das er längst verloschen gewähnt hatte. Er mochte ihre vollen Lippen und das Versprechen, das in ihren Blicken lag. Die Ahnung, dass sie ihm Freuden bereiten könnte, von denen er bislang noch nicht einmal zu träumen vermocht hatte. Ihre ruchlose Art faszinierte ihn, dabei hätte sie ihn abstoßen sollen. Er war ein Greis! Nicht hinfällig, nicht vom Alter gebeugt, aber doch gezeichnet. Er sollte nicht mehr an Abenteuer zwischen feinen Leinenlaken denken.
»Gewähre ihnen Unterschlupf! Sie werden dich nicht enttäuschen, das verspreche ich dir.«
Der Alte aus der Tiefe überlegte. Vielleicht wären sie ihm wirklich noch von Nutzen. Aber nicht hier. Er würde die Fehler, die zur Zerstörung der Tiefen Stadt geführt hatten, ganz gewiss nicht wiederholen. »Sie kehren zurück in Glamirs Turm. Dort kann kein Drache sie finden. Sie werden alles bekommen, was sie für ihre Forschung benötigen.«
Hornbori verschlug es schier die Sprache, wohingegen der Schmied nicht unglücklich über diese Entscheidung zu sein schien.
»Das Kind sollte nicht in den Turm«, sagte Amalaswintha, der das Schicksal ihrer Gefährten, die in Verbannung in den einsamsten aller Türme gehen würden, augenscheinlich nicht sehr naheging.
Nyr drückte den Kleinen fest an sich. »Frar bleibt dort, wo ich bin.«
»Liebst du das Kind?«
Eikin seufzte innerlich. Er liebte die rauchige Stimme der Zwergin.
»In dem Turm wird er keine Milch bekommen, keine frische Nahrung, und, was am wichtigsten ist, Kinder brauchen eine Mutter«, fuhr Amalaswintha fort. »Ich sehe, wie gut und aufopfernd du dich um ihn kümmerst. Aber ohne eine Mutter wird er wie eine Blume sein, die an einem zu schattigen Ort aufwächst. Ihre Blüten werden nie so groß und leuchtend wie die jener Blumen, die im vollen Licht der Sonne wachsen. Wenn du ihn liebst, Nyr, dann musst du ihn hierlassen.«
Eikin fragte sich, was Amalaswintha mit dem Kind wollte. Wollte sie Mutter sein, ohne sich an einen Mann zu binden? Diese plötzliche Kindesliebe passte ganz und gar nicht zu ihr. Gewiss führte sie etwas im Schilde.
Nyrs Lippen zitterten. Seine Augen waren feucht. Wie es schien, hatte Amalaswintha ihn überzeugt.
»Du hast vollkommen recht, meine Liebe.« Eikin legte der Zwergin sanft die Hand auf den Rücken. Er roch den Duft ihres Haares. Sie hatte ein schweres, sinnliches Parfüm aufgelegt. Einmal mehr erinnerte er sich an seine Träume von weichen Laken und Seidenhaut. »Du wirst mit ihnen gehen. Ein Kind braucht eine Mutter. Ich finde es großartig, dass du bereit bist, dich aufzuopfern. Ich werde noch heute einen Aal ausrüsten lassen, der euch alle zu Glamirs Turm bringt.«
Er bedeutete Amalaswintha mit einer herrischen Geste zu schweigen und wandte sich an die drei Drachentöter. »Ihr erschafft mir eine Waffe, die Himmelsschlangen zu töten vermag. Glamir ist auf der Suche nach etwas, das euch dabei helfen könnte. Wenn ihr wiederkehrt, werden wir die Himmel Albenmarks von den geflügelten Tyrannen befreien.«
Die Staubfahne
Volodi blickte mit einem mulmigen Gefühl zur blutroten Sonne, eingefasst von den hohen Bergen im Osten. Es würde schwer werden, diese Schlacht zu gewinnen. Jeder seiner Männer wusste das. Konnte er sich auf sie verlassen? Die meisten von ihnen gehörten nicht zu den Zinnernen. Die Streitwagen kamen aus dem Gefolge der Satrapen. Was wog für diese Krieger schwerer? Die Träume des Unsterblichen oder die Befehle ihrer Herren?
Volodi wusste, er sollte jetzt eine Rede halten, die die Männer anspornte, die den Zweifel aus ihren Herzen riss wie der Herbstwind die welken Blätter von den Bäumen. Aber sollte er das tun in einer Sprache, die ihm selbst nach all den Monden im Dienste Aarons noch immer nicht glatt von den Lippen gehen wollte? Er wusste, es waren gerade die Krieger von adliger Geburt, die über ihn schmunzelten, wenn er, der über den Adlern schritt, über einfache Worte stolperte.
Volodi ließ seinen Blick über die Masse der Streitwagen gleiten. Es waren über tausend! Schnelle, leichte Wagen, gezogen von je zwei Pferden. Die Tiere spürten die Anspannung, scharrten unruhig mit den Hufen oder warfen schnaubend den Kopf zurück. Sie waren ein Heer für sich. Wenn ihn jetzt nur sein Bruder oder sein Vater sehen könnten! All diese Pracht! Die Adligen boten ein Vermögen auf, um sich gegenseitig zu überbieten. Sie trugen schwere Bronzerüstungen, die in der ersten Morgensonne golden funkelten. Etliche führten seidene Banner, die träge in der leichten Brise schwangen, die von den Bergen im Westen kam.
Das Geschirr der Pferde war mit goldenen Amuletten und kleinen, silbernen Glöckchen geschmückt. Bunte Federn waren auf die Häupter der Tiere gesteckt oder in ihre Mähnen eingeflochten. Die Streitwagen standen üblicherweise unter dem direkten Kommando des Unsterblichen, und die Krieger hatten sich herausgeputzt, als seien sie selbst Könige. Sie mochten es nicht, von einem Söldner aus Drus befehligt zu werden. Volodi wusste, dass er sich allein auf die kleine Schar der Zinnernen verlassen konnte.
Volodi stieg auf seinen Wagen. Die Ebene vor ihm glänzte wie dahinrinnendes Gold. Tausende Krieger und Bauern marschierten in Kolonnen zu den Positionen, die ihnen ihre Hauptleute anzeigten. Glitzernd brach sich das Licht auf Speeren, die so dicht standen wie die Ähren eines Kornfeldes. Alles war in Bewegung. Tagelang hatten sie diese Manöver geübt. Jeder Mann wusste, wo sein Platz war.
Der Drusnier blickte auf die Hügelkette jenseits des trockenen Flusses. Wie würde sich Muwatta aufstellen? Auf den Hügeln standen einzelne Krieger, die kleine Fahnen an langen Stangen schwangen. Sie gaben Signale an ihr Heer, verrieten, wie die Krieger Arams sich zur Schlacht aufstellten, während die Truppen Luwiens vor Blicken verborgen blieben.
Doch eins vermochten selbst die Hügel nicht zu verstecken. Eine gewaltige, braune Staubfahne stieg vor den Bergen am Horizont auf. Muwattas Streitwagengeschwader hatten sich in Bewegung gesetzt. Sie zogen nach Westen, ganz wie Volodi es erwartet hatte. Dort, wo über Monate die Karawanen vom Goldenen Tor hergekommen waren, gab es einen Streifen von mehr als hundert Schritt Breite, an dem die Uferböschung auf beiden Seiten des trockenen Flusses eingebrochen war. Dort würden die Streitwagen leicht herüberkommen. Es war der beste Platz. Doch nutzte ihnen an dieser Stelle ihre Übermacht nichts. Wenn er die Enge hielt, wäre die Flanke von Aarons Heer gerettet.
Volodi lächelte voller Zuversicht und wandte sich seinen eigenen Truppen zu. Er zog eines seiner Eisenschwerter und hielt es hoch über den Kopf. »Männer Arams!«, rief er. »Wenn sich steht ein Mann in Tür, ist sich egal, wenn vor Tür sind sich tausend Männer. Kann kämpfen immer nur einer. Heute sind wir sich Männer in Tür von Aram. Lassen wir Feinde nicht nix hindurch. Töten sich alle!«
Die Ansprache war gut, fand er. Klar und mit einer Botschaft. Er gab seinem Wagenlenker das Zeichen zum Aufbruch und griff nach dem Haltebügel an der Seite, an dem zwei Köcher voller Wurfspeere hingen.
Kaum einer jubelte ihm zu. Aber was scherte ihn das! Sie würden gut kämpfen und ihre Stellung halten. Sein Jubel war das dumpfe Donnergrollen Tausender Hufe in seinem Rücken. Arams Streitwagen folgten ihm in die größte Schlacht, die er in seinem Leben schlagen würde.