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Lyviannes Worte taten ihr gut. Stimmte es wirklich? Redeten die anderen gar nicht über ihre Narben, sondern über ihre Taten?

Bidayn öffnete ihr Kleid und ließ es zu Boden sinken. Sie betrachtete das Narbenmuster auf ihrer Haut mit anderen Augen. Lyvianne hatte recht, sie musste sich dem stellen, was sie war, statt vor sich davonzulaufen.

»Gehen wir!«

Bidayn blickte zum Himmel, dann sah sie ihre Meisterin verwundert an. »Es ist doch noch viel zu früh.«

»Der Goldene hat entschieden, den Angriff um einige Stunden vorzuverlegen.«

»Aber warum? Bringt das nicht alle Pläne durcheinander?«

»So können wir ganz sicher sein, dass wir die Zwerge wirklich überraschen«, entgegnete Lyvianne mit einem Unterton, der Bidayn an Verrat denken ließ.

»Könnten die Zwerge gewarnt worden sein?«

Lyvianne lächelte kühl. »Was immer gerade in der Tiefen Stadt vor sich gehen mag, wir können ganz sicher sein, wir werden alle dort unten überraschen.« Mit diesen Worten nahm Lyvianne sie bei der Hand und führte sie über einen schmalen Saumpfad ins Tal hinab.

Sie sah, wie überall im Tal Elfen aufbrachen und in kleinen Gruppen verschwanden. Die Himmelsschlangen schienen etliche Drachenpfade angelegt zu haben, damit möglichst alle Krieger zur gleichen Zeit eintrafen. Auch die Drachen verschwanden in den Schatten zwischen den hellen Felsen. Es war unheimlich zu sehen, wie schnell sich das weite Tal leerte. Und alles geschah vollkommen lautlos.

»Werden die Zwerge uns nicht kommen sehen?« Bidayn hatte ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt, um die Stille nicht zu stören.

»Wir haben eine Vorhut geschickt, um jeden Zwerg zu töten, der sich vielleicht auf dem Berg aufhalten könnte. Die Überraschung wird vollkommen sein.« Lyvianne deutete auf einen Spalt zwischen zwei Felsblöcken. »Dies ist unser Weg.«

Bidayn musste an das Fenster in der Bibliothek der Weißen Halle denken. Das mahlende Glas, das jeden erwartete, der einen Fehler machte, wenn er diesen Drachenpfad öffnete. Sie nahm all ihren Mut zusammen und trat zwischen die beiden Felsen. Etwas zerrte an ihr, dann hatte sie das Gefühl zu stürzen. Undurchdringliche Dunkelheit umgab sie, drei Herzschläge lang, dann fand sie sich auf weichem Waldboden. Es duftete nach Harz und Kiefernnadeln. Auch hier war es dunkel, doch die Finsternis war nicht so vollkommen wie auf dem Pfad zwischen den Welten. Zwischen Bäumen schimmerte der Mond am Himmel. Unmittelbar vor ihr ragte ein massiger alter Baumstumpf auf. Er war groß wie ein eingestürzter Turm. Baumpilze wucherten aus dem bleichen Holz, von dem sich längst alle Rinde abgeschält hatte. Efeuranken, durchsetzt von pfeilgeraden, jungen Schösslingen, umlagerten die Flanken des Baumstumpfs. Aus seinem Inneren aber stieg Rauch empor.

Plötzlich war Lyvianne an ihrer Seite. Ihre Meisterin deutete mit dem Schwert auf den Baumstumpf. »Dort hinauf. Darin verbirgt sich einer der unzähligen Rauchabzüge der Tiefen Stadt. Das wird unser Weg zu den Zwergen sein.« Sie trat an das Wurzelwerk und zog ein aufgerolltes Seil darunter hervor.

Indessen kletterte Bidayn den Stumpf empor und blickte in den von Rauch geschwärzten Schacht hinab. Was würde sie dort unten erwarten?

Lyvianne knotete das Seil an einer der Wurzeln fest und kam zu ihr hinauf. »Sieh nur.« Die Elfe deutete über einen Windbruch hinweg, den Hang des Berges hinab. Die gestürzten Bäume gaben den Blick auf den Abhang frei. Drachen verdunkelten den Himmel. Überall am Hang sah Bidayn sie landen. Dazwischen, im Halbdunkel der Bäume, huschten helle Gestalten.

»Einen Angriff wie diesen hat es noch nie gegeben«, sagte Lyvianne voller Stolz. »Bei Sonnenaufgang wird die Tiefe Stadt zur Toten Stadt geworden sein.«

Ein Schatten fiel auf sie. Wind peitschte in Bidayns Gesicht. Die Baumwipfel ringsherum beugten sich, als ein riesiger Sonnendrache über ihnen erschien. Er schien direkt auf sie hinabzustürzen. Bidayn wollte davonlaufen, doch Lyvianne hielt sie fest.

»Du musst ruhig bleiben! Er hat uns gesehen und wird uns nicht verletzen. Erst wenn du läufst, bist du in Gefahr.«

Dünne Äste krachten. Staub wirbelte Lyvianne ins Gesicht. Bidayn schloss die Augen, als die Schattengestalt sich über ihnen niederließ. Krallen gruben sich knirschend in das faulige Holz des großen Baumstumpfs. Der Wohlgeruch des Sonnendrachens überlagerte den Gestank des Rauchs, der aus dem Schacht aufstieg.

Ein schwanengleicher Hals beugte sich neben ihnen hinab. Bidayn blickte in ein goldenes Auge, dessen geschlitzte Pupille länger als ihr Mittelfinger war. Die großen Nüstern des Drachen blähten sich.

Lyvianne sprach ein Wort der Macht und berührte sie an der Stirn. Wohliges Schaudern überlief Bidayn. Sie spürte, wie sich das Netz der Kraftlinien um sie zusammenzog. Nichts Bedrohliches haftete ihm an. Der Zauber umgab sie wie ein schützender Kokon.

Der rotgeschuppte Drache hob seinen Kopf weit in den Nacken. Er schien auf etwas zu lauschen, das Bidayn nicht zu hören vermochte. Den Befehl zum Angriff?

Ohne Einladung

Nodon dankte den Alben stumm dafür, den Zwerg mit dem verbrannten Gesicht getroffen zu haben. Obwohl er sein Bestes gegeben hatte, sich das Tunnellabyrinth der Tiefen Stadt einzuprägen, hatte er sich hoffnungslos verlaufen. Wahrscheinlich lag es auch an diesem fremden Körper, in den er gezwängt war und der alle seine Sinne beschnitt. So viel kleiner zu sein veränderte die Wahrnehmung! Die Wege waren plötzlich länger. Alles erschien ihm höher und eindrucksvoller.

Er tastete nach den beiden kurzen Schwertern, die er unter seinem Umhang verborgen hielt. Es waren Drachenklingen. Die sollte besser kein Zwerg zu sehen bekommen. Er zog den seltsamen Stein hervor, den Nachtatem ihm überlassen hatte. Das Kohlestück war gewachsen und machte schon fast die Hälfte des Steins aus. Aber fünf oder sechs Stunden sollten ihm noch bleiben. Mehr als genug Zeit, um den Zwerg aufzuspüren, ihn zum Drachenpfad zu bringen und aus diesem Labyrinth zu fliehen.

Nodon war es schleierhaft, warum Nachtatem unbedingt einen Zwerg aus dieser zum Untergang verdammten Stadt holen wollte. Vielleicht wäre der Kerl ja in Zukunft einmal wichtig. Nachtatem beriet sich immerzu mit den Gazala, die mit ihm in der weiten Halle tief unter der Pyramide im Jadegarten lebten. Diese Seherinnen waren seltsam. Die wenigen Male, die Nodon ihnen begegnet war, hatte er stets das Gefühl gehabt, dass sie Dinge über ihn wussten, die ihm selbst noch unbekannt waren. Sie waren kühl und abweisend. Sie wussten sicherlich, warum dieser Zwerg noch weiterleben sollte. Er sollte seine Zeit nicht mit unnützen Gedanken vergeuden. Es war nicht seine Aufgabe, Fragen zu stellen. Was er zu tun hatte, war klar umrissen. Hoffentlich machte der Zwerg ihm keine Schwierigkeiten. Gut, dass der Kerl gerade ein Fest besuchte. Dort könnte er unauffällig mit ihm ins Gespräch kommen.

Bald erreichte Nodon den Weg entlang der Felsspalte. Eilig schritt er voran und fand das Portal, das ihm beschrieben worden war. Mitten unter dem Tor stand ein Zwerg mit verschränkten Armen. Ein breiter, goldener Ring steckte in seiner Nase. Man musste wohl Zwerg sein, um das hübsch zu finden.

»Was willst du?«, fragte der Torwärter barsch. Hinter dem Kerl erschienen noch zwei weitere finster dreinblickende Zwerge, die sich in wohl geübter Pose auf mannsgroße Äxte stützten.

»Ich wünsche das Fest der Dame Amalaswintha zu besuchen.«

»Das wünschen viele«, entgegnete der Nasenringträger herablassend.

»Ich suche einen ihrer Gäste.«

Der Wächter zog die Brauen zusammen und machte einen Schritt auf ihn zu. »Dann wirst du wohl warten müssen, bis er durch dieses Tor kommt. Und du wartest nicht hier, dass das klar ist. Geschmeiß wie dich wünscht die Dame Amalaswintha nicht in der Nähe ihres Palastes zu sehen.«

Nodon wich ein Stück zurück. Er hasste es, bedrängt zu werden. »Ich habe eine dringende Nachricht für diesen Gast …«

»Was schert mich das?« Der großspurige Wächter rückte wieder ein Stück vor. Für einen Zwerg roch er erstaunlich dezent.